Seit Tagen wird über ein Strafurteil des Landgerichts Essen diskutiert, das einen 31-jährigen Mann vom Vorwurf der Vergewaltigung einer 15-Jährigen freigesprochen hat, weil das Mädchen nur wörtlich artikuliert hatte, dass es keinen Sex mit dem Angeklagten wolle, sich aber weder gewehrt noch um Hilfe gerufen habe.
Weil ich weder die Entwicklung des Sexualstrafrecht besonders intensiv verfolge, noch unbedingt auf Basis bloßer Presseberichte Urteile bewerten möchte, habe ich den Beitrag von Udo Vetter, die wütende Reaktion in feministischen Blogs und die sonstige Berichterstattung zwar verfolgt, aber bislang nicht kommentiert. Je mehr man allerdings liest – empfehlenswert ist insbesondere ein Blogbeitrag von ed2murrow – umso mehr kommt man zu dem Ergebnis, dass es nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH in der Tat für § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderlich ist, dass sich das Opfer objektiv in einer Lage befindet, in der es über keine effektiven Schutz- oder Verteidigungsmöglichkeiten mehr verfügt und deshalb nötigender Gewalt des Täters ausgeliefert ist. Das heißt, das Opfer muss sich letztlich den Gewalthandlungen des Täters widersetzen oder versuchen sich dem Zugriff durch Flucht zu entziehen bzw. fremde Hilfe zu erlangen, um strafrechtlichen Schutz zu erhalten. Wer sich nicht wehrt, ist dieser Logik folgend ansonsten u.U. nicht Opfer einer Sexualstraftat.
Ob diese Rechtsprechung de lege lata korrekt ist, möchte ich hier nicht erörtern, obwohl mir dies durchaus zweifelhaft erscheint. Denn jedenfalls de lege ferenda ist sie es nicht. Und die gesamte Diskussion ist fatalerweise erneut an dem Punkt angekommen, an dem sie bereits vor 15 bis 20 Jahren war. Denn es sind genau solche Fälle wie der des Landgerichts Essen gewesen, die den Gesetzgeber bewogen haben, 1997 den Straftatbestand der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung zu erweitern. Neben der Gewalt und der Drohung mit einer Gefahr für Leib oder Leben wurde als drittes Tatmittel das Ausnutzen einer schutzlosen Lage eingeführt. Damit sollten gerade auch die Fälle erfasst werden, in denen sich eine Frau „starr vor Schreck“ nicht gegen den Täter zur Wehr setzt. Einzelheiten hierzu kann man in einer älteren Dissertation nachlesen. Das ausdrücklich erklärte Ziel des Gesetzgebers war es jedenfalls, die sexuelle Selbstbestimmung strafrechtlich ummfassend zu schützen.
Dieses Ziel ist, wie die Entscheidung des Landgerichts Essen und auch die aktuelle Rechtsprechung des BGH zeigt, nicht erreicht worden. Ob dies an einer unzureichenden Gesetzesformulierung oder an der kritikwürdigen Rechtsprechung des BGH liegt, ist im Ergebnis unerheblich.
Wer als Gesellschaft und Gesetzgeber den Anspruch hat, die sexuelle Selbstbestimmung umfassend und lückenlos zu schützen, der muss ein Sexualdelikt bereits dann bejahen, wenn das Opfer, ausdrücklich oder aufgrund äußerer Umstände eindeutig ersichtlich, zu erkennen gibt, dass es keine sexuellen Handlungen wünscht. Man kann von dem Opfer weder verlangen, Fluchtversuche zu unternehmen noch laut um Hilfe zu schreien. Das eingeschüchterte und verängstigte Opfer darf nicht schlechter gestellt werden als jemand, der sich aktiv wehrt. Das Strafrecht kann die Schwachen nicht weniger schützen als die Mutigen.
Der Gesetzgeber ist an dieser Stelle deshalb erneut und zwar umgehend gefordert, sein Versprechen eines umfassenden und lückenlosen strafrechtlichen Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung endlich rechtssicher umzusetzen. Die Opfer sexueller Übergriffe haben ein Recht darauf.