Das Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen (Zugangserschwerungsgesetz) ist am 23.02.2010 in Kraft getreten. Nach dem Gesetz ist das Bundeskriminalamt (BKA) verpflichtet, eine sog. Sperrliste mit Domainnamen, Internetprotokoll-Adressen und Zieladressen von Telemedienangeboten zu führen, die kinderpornographische Inhalte i.S.v. § 184b StGB enthalten. Diese Liste muss inländischen Internetzugangsprovidern tagesaktuell übermittelt werden. Die Provider sollen dann den Zugang zu den in der Sperrliste genannten Angeboten durch technische Maßnahmen erschweren.
Dieses Gesetz wird bis heute allerdings nicht vollzogen, weil das Bundesministerium des Inneren durch einen Nichtanwendungserlass – der in dieser Form evident rechtswidrig ist – gegenüber dem BKA angeordnet hat, vorerst keine Sperrlisten zu führen, sondern sich ausschließlich um das Löschen von einschlägigen Inhalten zu bemühen.
Die Oppositionsparteien im Bundestag (SPD, Grüne, Linke) haben eigene Gesetzesentwürfe zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes eingebracht, die derzeit in den Ausschüssen behandelt werden. Nach einer Anhörung im Unterausschuss Neue Medien – an der ich als Sachverständiger teilgenommen habe – findet am 10.11.2010 eine weitere Anhörung im Rechtsausschuss statt, in der es um die rechtlichen Fragen geht. Aus diesem Grund möchte ich nochmals ausführlich die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Zugangserschwerungsgesetz erläutern und zusammenfassen.
1. Fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes
Dem Bund fehlt es an einer Gesetzgebungskompetenz für das Vorhaben. Der Kompetenztitel des Art. 74 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft), auf den sich das Gesetz stützt, ist nicht einschlägig, weil die geregelte Materie ausschließlich den Bereich des Polizei- und Sicherheitsrechts betrifft und damit in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fällt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG erstreckt sich der Kompetenztitel des Rechts der Wirtschaft nicht auf Vorschriften, die allein dazu dienen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen, auch wenn sie Auswirkungen auf die wirtschaftliche Tätigkeit haben (BVerfGE 8, 143, 149 f.; 13, 367, 371 f.; 41, 344).
Gegenstand der Regelung ist nicht die wirtschaftliche Betätigung der betroffenen Zugangsvermittler („Access-Provider“). Diese werden vielmehr nur als eine Art Verwaltungshelfer beim Vollzug des Gesetzes in Anspruch genommen. Gegenstand und Ziel des Gesetzes ist ausschließlich die Bekämpfung der Verbreitung von Kinderpornographie im Netz und damit ein Anliegen der Gefahrenabwehr.
2. Fehlende Verwaltungskompetenz des Bundes
Dem Bund mangelt es auch an der Kompetenz, das Gesetz mittels eigener Behörden zu vollziehen. Der Bund kann nach Art. 83 GG Bundesgesetze nur dann durch eigene Behörden vollziehen lassen, wenn ihm das Grundgesetz dafür eine Verwaltungskompetenz eigens zuweist, weil die Regelzuständigkeit bei den Ländern liegt. Nach § 1 Abs. 1 ZugErschG vollzieht das Bundeskriminalamt das Zugangserschwerungsgesetz durch Führung und Weiterleitung der sog. Sperrliste. Eine Verwaltungskompetenz des Bundes hierfür ist nicht ersichtlich. Diese Tätigkeit ist weder sachlich von einer Funktion als Zentralstelle i.S.v. Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG gedeckt noch wurde eine solche Zentralstelle für Aufgaben dieser Art durch Bundesgesetz errichtet.
Das Gesetz ist also bereits formell verfassungswidrig.
3. Materielle Verfassungswidrigkeit des ZugErschG
In materieller Hinsicht mangelt es dem Gesetz an der erforderlichen Bestimmtheit und Normklarheit. Zudem liegt ein Verstoß gegen den sog. Wesentlichkeitsgrundsatz und damit gegen Art. 20 Abs. 3 GG vor, wonach der Gesetzgeber die für den Grundrechtseingriff wesentlichen Aspekte selbst regeln muss und nicht der Verwaltung oder gar einem Verwaltungshelfer überlassen kann. Die Auswahl der anzuwendenden Sperrtechnologie wird vom Gesetzgeber allein dem Internetprovider überlassen. Das ist deshalb problematisch, weil die Anwendung verschiedener Sperrtechniken zu unterschiedlichen Grundrechtseingriffen mit ganz unterschiedlicher Intensität führen kann. Die Intensität und damit möglicherweise auch die Rechtmäßigkeit der Maßnahme kann aber nicht davon abhängen, welche Sperrtechnologie der einzelne Provider einsetzt, zumal es damit bei gleichen Sachverhalten bei unterschiedlichen Providern ohne sachlichen Grund zu unterschiedlich intensiven Eingriffen in die Grundrechte Betroffener kommen kann.
Das Gesetz greift zudem in unverhältnismäßiger und nicht verfassungskonformer Art und Weise in mehrere Grundrechte ein.
Es liegen Eingriffe in das Recht auf Meinungsfreiheit bzw. in die allgemeine Handlungsfreiheit der Inhaltsanbieter vor. Zudem wird in die Informationsfreiheit und das Fernmeldegeheimnis der Internetnutzer eingegriffen und schließlich auch in die Berufsfreiheit der Internetzugangsprovider. Diese Eingriffe sind verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, insbesondere nicht verhältnismäßig.
Das Gesetz ist schon nicht geeignet, den erhofften Zweck, die Verringerung von Zugriffen auf kinderpornographische Inhalte, zu erreichen. In der öffentlichen Diskussion ist bereits hinreichend dargestellt worden, dass diese „Sperren“ ohne weiteres zu umgehen sind und deshalb Pädophile, die gezielt nach derartigen Inhalten suchen, nicht von einem Zugriff abgehalten werden können. Das Gesetz bewirkt vielmehr gerade einen gegenteiligen Effekt: Durch die Sperrlisten und die vom BKA aufzustellenden „Stopp-Schilder“ wird überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf solche Seiten gelenkt, die sonst völlig unbemerkt von der überwiegenden Zahl der Nutzer online wären. Damit werden neue, zusätzliche Nutzer angelockt und nicht etwa ferngehalten. Die Erfahrung mit ausländischen Sperrlisten zeigt im Übrigen, dass sich diese Listen nicht geheim halten lassen und immer wieder im Internet auftauchen, was dazu führt, dass der Staat den Pädophilen geradezu eine Navigationshilfe für kinderpornographische Inhalte anbietet. Das „Stopp-Schild“ stellt zugleich ein Frühwarnsystem für Pädophile und die Betreiber entsprechender Websites dar. Diese Personen werden damit frühzeitig darauf hingewiesen, dass sie sich alternative Wege suchen müssen. Das Gesetz wird deshalb den Zugang zu kinderpornographischen Inhalten nicht erschweren, sondern begründet vielmehr die ernsthafte Gefahr, dass der relevanten Zielgruppe der Zugang sogar noch erleichtert wird. Das Zugangserschwerungsgesetz könnte sich also als Zugangserleichterungsgesetz entpuppen.
Aktuelle Untersuchungen, wie die der EFC, belegen zudem, dass das WWW, auf das die Netzsperren allein abzielt, nicht zu den Hauptverbreitungskanälen für kinderpornographische Inhalte im Netz zählt. Mit dem Konzept der Zugangserschwerung können die Hauptverbreitungswege erst gar nicht erfasst werden. Auch dieser Umstand spricht dafür, das Gesetz bereits als ungeeignet zur Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen zu betrachten. Das ZugErschwG ist vielmehr Ausdruck einer Placebo-Politik, die den Bürgern suggerieren soll, dass gegen Kinderpornographie im Netz vorgegangen wird.
Auch die Erforderlichkeit des Gesetzes ist nicht gegeben. Eine Inanspruchnahme eines Zugangsproviders, mithin eines Nichtstörers, kann allenfalls als Ultima Ratio in Betracht gezogen werden und auch nur dann, wenn vorab geprüft und sichergestellt worden ist, dass es nicht möglich ist, die fraglichen Inhalte durch ein Einwirken auf die zuständigen Behörden vor Ort bzw. die Host-Provider aus dem Netz zu entfernen. Erst dann, wenn diese sachnäheren Maßnahmen gescheitert sind, wäre eine Aufnahme in eine Sperrliste überhaupt denkbar. Solange aber effektivere Maßnahmen, die zudem Unbeteiligte verschonen, in Betracht kommen, ist eine Maßnahme der Zugangserschwerung ausgeschlossen. Diese Einschränkung gewährleistet das Gesetz aber nicht. Nicht ausreichend ist hier insbesondere der Vorbehalt in § 1 Abs. 2 des Gesetzes. Dieser Vorbehalt knüpft die Notwendigkeit sachnäherer Maßnahmen allein an die Einschätzung des Bundeskriminalamts, nicht aber an eine objektive Erforderlichkeitsprüfung. Warum hier, anders als bei anderen Maßnahmen der Gefahrenabwehr, eine Einschätzungsprärogative der Verwaltung bestehen soll, ist nicht ersichtlich und genügt jedenfalls nicht den Anforderungen, die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben.
Das zentrale Problem der Verhältnismäßigkeit besteht allerdings in dem als „Overblocking“ bezeichneten Effekt. Das Gesetz beinhaltet die naheliegende Gefahr, dass andere, legale Internetinhalte quasi mitgesperrt werden, weil es auf der Ebene der Zugangsprovider, die selbst keinen Zugriff auf die inkriminierten Inhalte haben, nicht möglich ist, die Blockademaßnahmen zielgenau auf kinderpornographische Webseiten zu begrenzen. Das Gesetz wird deshalb dazu führen, dass immer wieder legale Inhaltsangebote in Mitleidenschaft gezogen und ebenfalls gesperrt bzw. blockiert werden. Wenn beispielsweise, wie im Gesetz als Mindeststandard vorgesehen, pauschal eine bestimmte Domain gesperrt wird, dann können im Extremfall die Inhalte von Millionen Unbeteiligter betroffen sein.
Es ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Umsetzung des ZugErschG die Schaffung einer technischen Blockade-Infrastruktur auf seiten der Provider erfordert, die die Gefahr von Einschüchterungseffekten („chilling effects“) mit sich bringt. Zwar hat der Gesetzgeber die strafrechtliche Verwertung der am Stopp-Server gesammelten Informationen nicht vorgesehen. Dies ändert aber nichts daran, dass durch das Gesetz eine Infrastruktur geschaffen wird, die geeignet ist, im Prinzip jede Suche oder Anfrage eines Bürgers nach Information aufzuzeichnen und diese Anfrage anschließend aufgrund einer staatlich kontrollierten Sperrliste zuzulassen oder zu blockieren. Das heißt, das BKA wird in die Lage versetzt, Informationsströme im Netz innerhalb weniger Stunden vollständig zu kontrollieren bzw. zu blockieren. An dieser Stelle ist auch zu berücksichtigen, dass die Tätigkeit des BKA keiner ausreichenden Kontrolle unterliegt. Lediglich quartalsweise und stichprobenartig soll ein Expertengremium die vom BKA geführte Sperrliste überprüfen. Die Befürchtung vieler Bürger, dass damit eine „Zensur-Infrastruktur“ geschaffen wird, ist berechtigt, wenngleich die Effektivität solcher Systeme dank der Architektur des Internets begrenzt ist.
Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass die Ausweitung des Einsatzes einer entsprechenden Sperrtechnologie auf andere Bereiche wie Urheberrechtsverletzungen oder Online-Glückspiele immer wieder öffentlich gefordert worden ist. Diese Forderungen werden sich weiter verstärken, sobald einmal in einem ersten Bereich ein solches Konzept zum Einsatz gekommen ist. Der Gesetzgeber wird sich diesen Forderungen, entgegen der jetzigen anderslautenden Beteuerungen, schwerlich entziehen können.
Das Zugangserschwerungsgesetz ist formell und materiell verfassungswidrig. Nachdem es der Anspruch des Bundestages sein muss, verfassungskonforme Gesetze zu erlassen, ist allein dieser Umstand, jenseits aller Parteipolitik, Grund genug, das Gesetz aufzuheben.