Gastbeitrag von Dr. Birte Förster
Der Text beleuchtet das „Gedicht“ Böhmermanns aus literaturwissenschaftlicher Sicht, was auch für die juristische Bewertung von Interesse sein sollte.
Die Anwältin der „Titanic“, Gabriele Rittig, hat in einem Interview mit der FAZ am 14. April 2016 darauf aufmerksam gemacht, dass die Rahmung, die Böhmermann seinem „Schmähgedicht“ gegeben hat, möglicherweise als Distanzierung von dessen Inhalt eben doch nicht ausreicht. Gewertet werde in der „Deckmanteltheorie“ nicht nur die Intention des Autors – „Ist das tatsächlich so gemeint? Und erkennt man das auch?“ – sondern auch „der Empfänger-Horizont“. Zentrale Frage ist also: Hat Böhmermann einen Gesamttext verfasst, den das Publikum richtig einordnen kann?
Spätestens jetzt ist die Diskussion auch eine literaturwissenschaftliche. Mit dem Verhältnis von Leser und Text und der Rolle des Lesers bei der Textinterpretation hat sich die Rezeptionstheorie intensiv befasst, darunter Wolfgang Iser und Umberto Eco. Iser geht davon aus, dass der ideale Leser die im Text anlegten Strategien, einen Text zu deuten, erkennt.[1] Das ideale Publikum des „Schmähgedichts“ würde also erkennen, dass es sich um einen Text handelt, der die Grenze von Satire und Schmähung zwar vorführt, aber keine Beleidigung intendiert. Das Problem ist aber laut Rittig möglicherweise ein nicht-ideales Publikum:
„Wessen Verständnis ist maßgebend: das der Zuschauer, die Satire erkennen, oder das derjenigen, die schon die Wortwahl als Beleidigung auffassen?“
Hier könnte Umberto Eco Böhmermann zur Seite springen. Der unterscheidet zwischen offenem und geschlossenem Kunstwerk.[2] Ein offenes Kunstwerk lässt den Rezipienten Raum für Interpretation, sogenannte „Leerstellen“ (Iser) im Text, bei dem der in der Rezeptionstheorie enorm aufgewertete Leser selbst interpretieren soll und muss. Ein geschlossenes Kunstwerk hingegen lässt dem Leser oder Publikum diese Freiheit gerade nicht. Geschlossene Texte
„zielen […] darauf ab, den Leser auf einem vorbestimmten Pfad entlangzuführen, wobei sie sogfältig und offenkundig ihre Effekte entfalten, um Mitleid oder Furcht, Erregung oder Depression am rechten Ort und zur rechten Zeit zu erwecken.“[3]
Diese Lenkung[4] erfolgt etwa durch ein Vorwort („Willkommen in Deutschlands größter Quatschsendung“) oder einen „Autorkommentar“[5] (Erläuterung des Unterschieds zwischen Satire und Schmähkritik als Herabwürdigung, Andeutung der juristischen Folgen einer Schmähung). Eine andere Variante ist die direkte Ansprache des Lesers/Publikums. Das „Haben Sie das verstanden, Herr Erdogan?“ kann man hier durchaus als Ansprache an das Gesamtpublikum werten. Bevor das Gedicht vorgetragen wird, machen die auktorialen Erzähler Jan Böhmermann und Ralf Kabelka mehrfach deutlich: dieser Text ist keine Satire („das, was jetzt kommt, das darf man nicht machen“) und thematisieren dies auch während des Vortrags. Das „Schmähgedicht“ selbst arbeitet mit sexistischen und rassistischen Stereotypen, dies allerdings mit derart hyperbolischen Formulierungen, dass eine identifikatorische Rezeption nicht möglich ist. Der geschlossene Text von Böhmermann legt vielmehr als Rezeption an: hier werden Grenzen überschritten, die durch Art. 5 GG nicht gedeckt sind. Unterstellte man Böhmermann also tatsächlich eine Verantwortung für die Interpretation des „Schmähgedichts“ und dessen Paratexte, kann man in Anlehnung an Eco sagen: enger kann man ein Publikum kaum auf vorbestimmten Pfaden entlangführen. Einen Deutungsspielraum, wie das Gedicht zu interpretieren ist, gibt es so gut wie nicht.[6]
Ist die Haltung eines Lesers allerdings jene, mit Beleidigungen ständig zu rechnen – 1800 Klagen wegen Beleidigung deuten ja durchaus darauf hin – dann darf man getrost annehmen, dass das „Schmähgedicht“ kontextfrei und damit nicht im Sinne des Autors rezipiert wurde. Diese Lesehaltung war von Böhmermann und seinem Team nicht intendiert, sie war von Faktoren bestimmt, auf die der Autor keinen Einfluss nehmen konnte, wie immer eng er den Leser auch hatte führen wollen.
Eine Verantwortung für das bewusste Missverstehen eines aus dem Kontext gelösten Inhalts kann man Böhmermann aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht zuweisen. Andernfalls müssten wir dann auch alle „einen heißen Durst nach edlen Taten“ haben, das Fräulein retten und den Major artig grüßen wollen, wie der von Matthias Claudius in den Hamburgischen Adreß-Comptoir-Nachrichten erdachte ‚unwissende Jüngling‘ als Zuschauer in „Minna von Barnhelm“.[7]
[1] Wolfgang Iser: Der implizite Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972.
[2] Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt 1977.
[3] Umberto Eco: Im Labyrinth der Vernunft, Leipzig 31995, S. 198f.
[4] Zur Leserlenkung in populärliterarischen Texten s. Birte Förster: Der Königin Luise Mythos. Mediengeschichte des „Idealbilds deutscher Weiblichkeit“, Göttingen 2011, S. 29ff.
[5] Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 238f.
[6] Alexander Thiele nennt eine buchstabengetreue Interpretation des Gedichts „lebensfremd“, s. http://verfassungsblog.de/erlaubte-schmaehkritik-die-verfassungsrechtliche-dimension-der-causa-jan-boehmermann/
[7] S. http://www.internetloge.de/arst/claudius-minna.pdf. Den Hinweis auf diese digitale Version verdanke ich Gerald Krieghofer, Wien.