Der Verteidiger Gustl Mollaths hat in den letzten Tagen die psychiatrischen Gutachten veröffentlicht, die die Grundlage für Anordnung und Fortdauer der Unterbringung waren. Daneben hat Rechtsanwalt Strate auch einen Auszug aus der Betreuungsakte Mollaths ins Netz gestellt. Das ist ein mutiger Schritt, der von den betroffenen Sachverständigen möglicherweise noch juristisch bekämpft werden wird.
Damit kann sich nun jedermann seine Meinung zu dem Fall anhand der Primärquellen bilden. Der Kollege Oliver Garcia hat dies in seinem Blog bereits getan. Er fasst seine Eindrücke folgendermaßen zusammen:
Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, aufgrund von Schriftstücken dieser Qualität würden Gerichte die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen – ich hätte ihn für verrückt erklärt.
Anschließend analysiert Garcia das maßgebliche Gutachten des Sachverständigen Prof. Leipziger. Und Garcia beanstandet zusammengefasst, dass die von Leipziger getroffenen Tatsachenfeststellungen – die nicht auf einer Untersuchung Mollaths beruhen – seine medizinischen Schlussfolgerungen nicht tragen.
Wenn man sich das Leipziger-Gutachten durchliest, stellt man fest, dass es im Wesentlichen aus einer selektiven Zusammenfassung von Akteninhalten besteht, an die sich eine medizinische Bewertung anschließt, bei der nicht deutlich wird, auf welche Einzelbeobachtungen sie sich tatsächlich stützt. Dreh- und Angelpunkt des Gutachtens ist die Unterstellung eines paranoiden Gedankensystems. Hierfür beruft sich Leipziger zum einen auf den „Komplex der Schwargeldverschiebungen“ – der sich im Kern mittlerweile allerdings als zutreffend herausgestellt hat – und zum anderen auf die Vorbehalte Mollaths gegenüber dem Sachverständigen Dr. Wörthmüller, die dieser freilich selbst für nachvollziehbar hält, die nach der Einschätzung Leipzigers aber wahnhaft sein sollen. Als weiteres Indiz für ein paranoides Gedankensystem wertet Leipziger den Wunsch Mollaths sich nur mit Kernseife zu waschen und sich von Nahrungsmitteln aus biologisch-dynamischem Anbau ernähren zu wollen. Bei den ersten beiden Aspekten geht Leipziger, wie man mittlerweile weiß, im Wesentlichen von falschen tatsächlichen Annahmen aus. Wäre der dritte Aspekt auch nur ansatzweise ein Kriterium, dann müssten sehr viele gesundheitsbewusste Menschen als paranoid eingestuft werden. Aus diesen allesamt nicht tragfähigen Annahmen zieht Leipziger sodann folgende Schlussfolgerung:
Beim Angeklagten ist mit Sicherheit eine bereits seit Jahren bestehende, sich zuspitzende paranoide Symptomatik (Wahnsysmptomatik) festzustellen, die Denken und Handeln des Angeklagten in zunehmendem Maße bestimmt und ihn auch in den von ihm empfundenen Befürchtungen so weit beeinträchtigt, dass er zu einem weitgehend normalen Leben und der Besorgung der für ihn wesentlichen Angelegenheiten im Außenraum nicht mehr in ausreichendem Maße in der Lage ist.
Wesentlich weniger apodiktisch als Leipziger, dafür in der Schlussfolgerung vollständig entgegengesetzt, fasst es der vom Vormundschaftsgericht beauftragte Sachverständige Dr. Simmerl in seinem Gutachten aus dem Jahre 2007 zusammen:
Ob es sich dabei tatsächlich um Wahneinfälle, um verzerrt wahrgenommene Begebenheiten mit „gewissem realistischen Kern“ oder tatsächlich um die Wahrheit handelt, vermag der Unterzeichner nicht mit Sicherheit zu sagen. Es kann allerdings festgestellt werden, dass die Schilderungen des Betroffenen nicht bizarr, völlig unrealistisch oder „kulturfremd“ waren. Diese Kriterien, die für schizophrenietypische Wahnideen genannt werden, sind mit Sicherheit nicht erfüllt. Auch ansonsten fand sich bei der Untersuchung keinerlei Hinweis fiir eine psychotische Symptomatik. Insbesondere keine Affektstörungen, keine formalen Denkstörungen u. auch keine kognitiven Beeinträchtigungen. (…)
Der Unterzeichner sieht bei Herrn Mollath psychiatrischerseits am ehesten eine
Persönlichkeitsstörung mit querulatorisch-fanatischen Zügen (ICD 10- Nr.: F 60.0). Ein Hinweis für eine psychotische Erkrankung fand sich nicht.
Diese Feststellungen des Leitenden Arztes des Bezirksklinikums Mainkofen, die im Rahmen des Betreuungsverfahrens getroffen wurden, blieben in dem Unterbringungsverfahren augenscheinlich gänzlich unberücksichtigt, obwohl Simmerl Gustl Mollath anders als Leipziger tatsächlich untersucht hat.
Es ist frappierend, dass der eine Sachverständige eine Wahnsymptomatik „mit Sicherheit“ feststellt, während der andere sich nicht sicher ist, ob es sich um Wahneinfälle handelt, allerdings keine Anhaltspunkte für eine „psychiotische Erkrankung“ gefunden hat.
Man muss kein Arzt oder Psychiater sein, um erkennen zu können, dass die tatsächlichen Feststellungen Leipzigers, so wie sie in dem Gutachen dargestellt werden, den Schluss auf ein paranoides Gedankensystem, eine krankhafte seelische Störung, eine Schuldunfähigkeit im Tatzeitpunkt und eine fortbestehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit, nicht zulassen. Es fehlt insoweit an einer plausiblen und nachvollziehbaren Darstellungen des Kausalzusammenhangs zwischen den tatsächlichen Feststellungen Leipzigers und seinen Schlussfolgerungen. Der ursächliche Zusammenhang zwischen den geschilderten Symptomen – wobei mir die Darstellung Leipzigers ohnehin äußerst selektiv und pointiert zu Lasten Mollaths erscheint – und der Diagnose, wird nicht deutlich.
Diese Mängel des Gutachtens Leipziger hätten auch die Gerichte erkennen können und müssen, zumal unter Berücksichtigung der konträren Einschätzung des Dr. Simmerl. Hierbei hätte speziell das Landgericht Bayreuth berücksichtigen müssen, dass demjeinigen Sachverständigen, der den Betroffenen tatsächlich untersucht hat, ein höheres Gewicht beizumessen ist, als demjenigen, der sein Gutachten nur nach Aktenlage erstellt hat.
Was allerdings an dem Gutachten Leipziger wirklich schockierend ist, ist das praktisch vollständige Fehlen der für § 63 StGB unabdingbaren Gefährlichkeitsprognose. Nach der gesetzlichen Vorgabe muss eine Gesamtwürdigung von Täter und Tat eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades ergeben, dass infolge des fortdauernden Störungszustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begangen werden.
Insoweit beschränkt sich Leipziger erneut auf das von ihm attestierte Wahnsystem. Wegen der Einbeziehung von immer mehr Dritten in dieses Wahnsystem seien vom Angeklagten weitere gleichartige Taten zu erwarten. Mehr an Würdigung und Begründung liefert Leipziger nicht. Wenn man die Voraussetzungen von § 63 StGB auf diese Art und Weise bejaht, kann man in der Tat sehr viele Menschen sehr schnell in die geschlossene Psychiatrie verfrachten.
Dass sich Mollath unter diesen Bedingungen als Opfer der Psychiatrie und der Justiz betrachtet und sich an der ein oder anderen Stelle dann auch verrannt hat, nachdem man ihn sieben Jahre lang zu Unrecht untergebracht hat, ist mehr als verständlich und sicherlich kein Indiz für Wahnvorstellungen.
Der Fall Mollath ist ein Justiz- und Psychiatrieskandal und er zwingt dazu, die derzeit praktizierten Mechanismen der Unterbringung nach § 63 StGB in Frage zu stellen.