Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

10.11.11

Das Europaparlament ist gar kein richtiges Parlament

Das Bundesverfassungsgericht hat gestern (Urteil vom 09.11.2011, Az.: 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10) entschieden, dass die 5-Prozent-Hürde bei den Europawahlen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien verstößt, undhat die der Sperrklausel zugrunde liegende Vorschrift des § 2 Abs. 7 Europawahlgesetz (EuWG) für nichtig erklärt.

Die Begründung die das Gericht liefert ist diskussionsbedürftig.

Das BVerfG weist zunächst darauf hin, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel zu einer Ungleichgewichtung der Wählerstimmen führt, wodurch der Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt wird. Diese grundsätzliche Überlegung trifft allerdings auf alle Wahlen zu.

Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht des Gerichts eine Fünf-Prozent-Hürde nicht per se unzulässig, aber sie bedarf stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Und einen solchen Grund sieht das Gericht zwar für die Bundestagswahlen, nicht aber für die Europawahlen.

Denn, so das Gericht sinngemäß, das EU-Parlament ist gar kein richtiges Parlament, weil es nicht dieselbe Funktion erfüllt wie der Bundestag und auch nicht über vergleichbare Kompetenzen verfügt . Wörtlich liest sich das dann so:

Eine – bei der Wahl zum Deutschen Bundestag – vergleichbare Interessenlage besteht auf europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen nicht. Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde. Zudem ist die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängig ist.

Diese Betrachtung ist sicherlich nicht falsch, denn sie beschreibt letztlich nur, das auf EU-Ebene nach wie vor vorhandene strukturelle Demokratiedefizit.

Dennoch  halte ich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung für problematisch. Denn sie trägt der erheblich gewachsenen Bedeutung des Europaparlaments in den letzten Jahrzehnten nicht Rechnung. Ein beträchtlicher Teil gerade auch der gesetzgeberischen Grundentscheidungen wird nicht mehr in Berlin sondern in Brüssel getroffen. Das EU-Parlament ist zwar von einem originären Gesetzgeber noch weit entfernt, aber es hat durch die Verträge von Maastricht und Lissabonn eine deutliche Aufwertung erfahren. Das Europäische Parlament ist mittlerweile an mehr grundlegenden gesetzgeberischen Entscheidungen unmittelbar beteiligt als der Bundestag und hat in vielen Bereichen zumindest die Möglichkeit die Rechtsetzungsvorschläge der Kommission zu verhindern.

Die Bedeutung des Europaparlaments ist deshalb mittlerweile wohl höher als die des Bundestages. Auch wenn das in der Öffentlichkeit so nicht wahrgenommen wird. Denn dem Bundestag verbleibt bei den EU-Richtlinien letztlich nur noch die Pflicht zur Umsetzung, regelmäßig ohne nennenswerten Gestaltungsspielraum.

Man muss sich außerdem auch die Frage stellen, ob die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts nicht auch auf die Bundestagswahlen zu übertragen wären und ob die jetzt vorgenommene Differenzierung zwischen Europa- und Bundestagswahlen deshalb nicht inskonsequent ist.

Auch wenn die Fünf-Prozent-Hürde eine Lehre ist, die man aus der Handlungsunfähigkeit des Reichstags der Weimarer Republik gezogen hat, muss die Frage erlaubt sein, ob sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Verlauf der letzten 60 Jahre nicht so deutlich geändert haben, dass dieses Argument letztlich verblasst. Würde der Bundestag tatsächlich handlungsunfähig, wenn man die Fünf-Prozent-Hürde abschafft bzw. würde dies Regierungsbildungen wirklich so stark erschweren, dass es gerechtfertigt ist, den Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit zu beeinträchtigen?

Die Entscheidung des Bundesverfassungerichts erscheint mir in sich nicht wirklich schlüssig und stringent. Sie erging auch nur mit 5:3 Stimmen und in der Begründung sogar nur mit 4:4. Das Sondervotum der scheidenden Verfassungsrichter Di Fabio und Mellinghoff ist beachtenswert.

Die beiden Richter weisen darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Europawahl noch 1979 als gerechtfertigt angesehen hat, während man sie heute, trotz beträchtlicher Kompetenzzuwächse sowie einer deutlich gestiegenen politischen Bedeutung des Europaparlaments, für nicht mehr gerechtfertigt erachtet und beklagen, dass nicht hinreichend dargelegt wird, weshalb und inwieweit sich der Beurteilungsmaßstab verändert hat.

Ebenfalls kritisch und wie immer lesenswert äußerst sich Max Steinbeis in seinem Verfassungsblog.

posted by Stadler at 13:26  

2.11.11

Die Angst vor dem Volk

Die griechische Ankündigung einer Volksabstimmung über die EURO-Rettung ist bei der politischen Klasse europaweit auf Unverständnis gestoßen, teilweise war gar von einem Schock die Rede.

Wie schockierend kann es für eine Institution wie die EU und ihre Mitgliedstaaten – die sich Freiheit und Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben haben – eigentlich sein, wenn sich das betroffene Mitgliedsland dazu entschließt, eine essentielle Frage demokratisch zu klären? Das Mutterland der Demokratie lässt seine Bürger über ihre eigene Zukunft abstimmen. Eigentlich sollte das für einen Demokraten Anlass zur Freude sein. Stattdessen wird eine demokratische Selbstverständlichkeit in einen Affront umdefiniert, der manche sogar schockiert. Und diese Haltung besagt viel über unser demokratisches Selbstverständnis.

Wir werden seit längerer Zeit nicht mehr von Demokraten, sondern von Technokraten regiert, denen nichts weniger in den Kram passt, als dass sich der Bürger einmischt und auf sein Mitspracherecht pocht.

Diese Arroganz der Macht, wie wir sie auch im Zuge der sog. Euro-Rettung täglich miterleben können, ist der Grund für die weltweite Zunahme von Bürgerprotesten. Es ist deshalb eine ausgesprochen gute Idee, das griechische Volk entscheiden zu lassen und wie Max Steinbeis so treffend titelt, auch das Ende der Alternativlosigkeit.

Was wir aktuell erleben ist keine Eurokrise, sondern zunächst einmal mehr eine Bankenkrise. Dahinter steckt allerdings eine tiefgreifende politische Krise, die die Konstruktionsdefizite der Währungsunion und das europäische Demokratiedefizit immer stärker offen legt. Ohne ein Mindestmaß an politischer Union ist eine Währungsunion vermutlich nicht machbar und zum Scheitern verurteilt. Griechenland hin oder her. Daran ändert auch der Aktionismus den Merkel und Sarkozy an den Tag legen, nichts.

Europa sollte vor allen Dingen ein Freiheits- und Demokratieprojekt sein. Dafür braucht es aber begeisterte und demokratisch gesinnte Politiker, die diese großartige Idee offensiv vertreten und den Bürger nicht als Störfaktor betrachten. Stattdessen regiert bei uns seit Jahrzehnten der Kleinmut. In den Mitgliedsstaaten schimpfen Politiker aller Parteien über die EU, während man in Brüssel weitreichende Entscheidungen demokratisch nicht (unmittelbar) legitimierten Technokraten überlässt. So kann und wird es auf Dauer nicht weitergehen.

Einige bekannte Kommentatoren wie Frank Schirrmacher oder Jakob Augstein haben zwar den richtigen Ton getroffen, aber auch in der Presse wird die griechische Linie überwiegend kritisiert. Dabei nährt sie die Hoffnung auf das Ende der Alternativlosigkeit und das Ende einer Politikergeneration deren Metier die Hinterzimmerpolitik ist; eine Politik, deren Wesensmerkmal darin besteht, an den Parlamenten und erst Recht an den Bürgern vorbei gemacht zu werden.

Die Frage, ob es gute Gründe gegen das griechische Referendum gibt, ist vernünftigerweise zu verneinen. Als Bürger und Demokrat muss man den Vorstoß des griechischen Ministerpräsidenten begrüßen.

posted by Stadler at 16:49  

12.10.11

EU-Kommission schlägt gemeinsames Europäisches Kaufrecht vor

Die EU-Kommission will ein einheitliches europäisches Kaufrecht schaffen, das allerdings nur dann gelten soll, wenn sich beide Vertragsparteien ausdrücklich und einvernehmlich darauf verständigen.

Dieses Kaufrecht soll grenzüberschreitend anwendbar sein und zwar auf Kaufverträge und auf Verträge über die Bereitstellung digitaler Inhalte wie Musik, Filme, Software oder Smartphone-Anwendungen.

Das EU-Parlament hat seine Zustimmung zu dem Projekt bereits signalisiert.

posted by Stadler at 16:02  

4.10.11

Das antiparlamentarische Europa

„Europa ist eine antiparlamentarische Veranstaltung“ schreibt der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in der heutigen Ausgabe der SZ (Wer ist hier eigentlich der Herr im Haus?, Süddeutsche Zeitung vom 04.10.2011, S. 11), was der Autor aber gar nicht so schlecht findet, wie man im Verlauf der Lektüre seines Artikels erfährt.

Müller stützt sich zunächst vordergründig auf die starken Rollen der Verfassungsgerichte, insbesondere auch des BVerfG, im Nachkriegseuropa, die er als eine Art negativer Gesetzgeber betrachtet, worin er  eine sinnvolle Beschneidung des Prinzips der parlamentarischen Demokratie sieht. Dieses Konzept findet nach Ansicht Müllers auf Ebene der EU, deren Entscheidungen praktisch ausschließlich von Exekutivorganen getroffen werden, lediglich ihre konsequente Fortsetzung.

Diese Betrachtungsweise erscheint mir reichlich undiffernziert. Die Schaffung einer starken Rechtsprechung, mit einem Verfassungsgericht an der Spitze, die parlamentarische Entscheidungen in grundrechtsintensiven Bereichen punktuell kontrollieren kann, ist nämlich lediglich Ausdruck des rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung, das gleichberechtigt neben dem Demokratieprinzip steht. Starke Verfassungsgerichte verschaffen also nur dem Gewaltenteilungsgrundsatz Geltung und sind daher wichtiger Bestandteil einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die originäre Entscheidungskompetenz der Parlamente wird dadurch auch nicht beschnitten, sie wird nur unter rechtsstaatliche Kuratel gestellt.

Das hat nur sehr wenig mit demjenigen Demokratiedefizit zu tun, das wir auf EU-Ebene beobachten können. Denn dort werden alle wesentlichen Entscheidungen nicht mehr originär von einem Parlament getroffen, sondern von den Exekutivorganen Kommission und Rat, die beide noch nicht einmal indirekt demokratisch legitimiert sind. Daran ändert auch die Existenz des EU-Parlaments nichts, denn dieses hat nach wie vor nicht die Aufgabe eines Gesetzgebers, was an sich aber unabdingbare Voraussetzung eines demokratischen Staatsgefüges ist.

Dieses enorme Demokratiedefizit dürfte auch den Hauptgrund für die bürgerfernen und intransparenten Entscheidungsprozesse der Institutionen der EU darstellen.

Auch wenn viele Bürger das noch nicht wirklich realisiert haben, aber in weiten Bereichen der Politik entscheiden heute nicht mehr die von ihnen gewählten Abgeordneten, sondern Institutionen, denen es an einer ausreichenden demokratischen Legitimation mangelt. Sämtliche Richtlinien der EU – die Verordnungen gelten ohnehin unmittelbar – müssen von den nationalen Parlamenten umgesetzt werden. Die gewählten Abgeordneten nicken also nur noch das ab, was ihnen demokratisch nicht legitimierte Institutionen vorschreiben.

Die EU – und damit auch zu einem guten Teil die Mitgliedsstaaten – erhält nur noch eine demokratische Fassade aufrecht. Alle Staatsgewalt geht, wegen der enormen Kompetenzverschiebung nach Brüssel, schon lange nicht mehr vom Volke aus, wie Art. 20 Abs. 2 GG es verlangt. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte dieser Entwicklung nichts entgegenzusetzen, wenngleich es mehrfach – in unterschiedlichen Zusammenhängen – eine stärkere Beteiligung des Parlaments angemahnt hat.

Die zunehmende Verlagerung der Gesetzgebung auf Exekutivorgane der EU führt dazu, dass wir uns schleichend vom Prinzip einer parlamentarischen Demokratie verabschieden. Ein allzu willfähriger Bundestag verstärkt diesen Prozess nur noch.

posted by Stadler at 16:59  

29.9.11

Anhörung zur Vorratsdatenspeicherung: Ein wenig Licht und viel Schatten

Gastbeitrag von @vieuxrenard

Das „Stakeholder Hearing“ für die Justiz zur Novelle der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung

Die Europäische Kommission erarbeitet derzeit eine mögliche Novelle der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Zur Vorbereitung des entsprechenden Entwurfs, der voraussichtlich im Sommer 2012 erscheinen soll, veranstaltet die Generaldirektion Inneres der Kommission derzeit nach einer eher unbefriedigenden ersten schriftlichen Evaluation eine Serie sogenannter „Stakeholder Hearings“, also Anhörungen von Interessierten und Betroffenen. Eines dieser Treffen – die Runde mit Vertretern der Zivilgesellschaft – hat Michael Ebeling auf den Seiten des AK Vorrat dokumentiert.

Am 19. September 2011 fand nun in Brüssel die letzte Runde statt, zu der Vertreter aus der Justiz der Mitgliedstaaten eingeladen waren. Die Veranstaltung wurde von Cecilia Verkleij von der GD Inneres geleitet, der ihre Kollegen Christian D’Cunha und Julian Siegl zur Seite standen. Zur Vorbereitung hatte die Kommission ein dreiseitiges „discussion paper“ verteilt, aus dem deutlich wurde, dass die Frage des Ob einer (weiteren) europarechtlichen Vorgabe für eine Vorratsdatenspeicherung in den Mitgliedstaaten bisher nicht ernstlich zur Debatte steht. Das Interesse der Kommission ging vielmehr vor allem dahin zu erfahren, welche Rolle gespeicherte Vorratsdaten für die Strafverfolgung tatsächlich spielen und ob die Daten auch außerhalb von Strafverfahren genutzt werden. Außerdem sollten die Vorgaben der Richtlinie zur Zweckbestimmung der Vorratsdatenspeicherung diskutiert werden. Schließlich sollte es um die Evaluation der Regelungen des nationalen Rechts gehen, nach denen auf Vorratsdaten zugegriffen werden kann, sowie um die Frage, ob Gerichte bei der weiteren Evaluation der Vorratsdatenspeicherung einen sinnvollen Beitrag leisten können.

Die vierstündige, durchgehend auf Englisch geführte Diskussion, an der Vertreter aus rund zwanzig Mitgliedstaaten teilnahmen, folgte grob dem Aufbau des „discussion paper“. Zu Beginn trug der Vertreter der deutschen Justiz vor, dass in seinem Land die nationale Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung  nur für einen begrenzten Zeitraum in Kraft war, sodass sich aus deutscher Sicht sehr gut die Kriminalstatistiken vor, während und nach der Vorratsdatenspeicherung vergleichen lassen. Zur großen Überraschung der übrigen Anwesenden verwies der deutsche Vertreter darauf, dass in den Jahren 2007 bis 2009 keinerlei Unterschied bei den Aufklärungszahlen auszumachen sei. Dies wiederum lasse einige Fragen nach der praktischen Bedeutung der Vorratsdaten gerade für die zur Begründung ins Feld geführte schwere Kriminalität und damit nach der Verhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung insgesamt aufkommen.

Diese Sichtweise teilte allerdings im Zuge der weiteren Diskussion keiner der übrigen Justizvertreter. Vielmehr wurde einhellig darauf verwiesen, dass in einer großen Zahl von Strafverfahren auf Vorratsdaten zugeriffen worden und diese ausgesprochen nützlich oder gar unverzichtbar seien. Allerdings nannte keiner der übrigen Anwesenden konkrete Zahlen zum möglichen Effekt der Vorratsdatenspeicherung bei der Kriminalitätsbekämpfung; stattdessen wurde stets betont, dass die Daten in sehr breitem Umfang genutzt würden – beispielsweise gab die italienische Vertreterin an, dass in etwa 90% der Ermittlungsverfahren wegen „schwerer Straftaten“ Vorratsdaten eine Rolle gespielt hätten. Durchweg wurde die Hoffnung formuliert, dass die Zweckbestimmungen der Richtlinie keinesfalls enger gefasst und die Speicherfristen nicht verkürzt werden.

Die Kommissionsvertreter, die tendenziell eher Fragen stellten als Position bezogen, ließen gleichwohl durchblicken, dass sie durchaus Verständnis für die deutsche Position hatten, wonach für die Angemessenheit der Vorratsdatenspeicherung nicht die Frage der tatsächlichen Nutzung von Vorratsdaten, sondern eher deren Unverzichtbarkeit maßgeblich sein muss. Konkret formulierte etwa Christian d’Cunha, es könne nicht darauf ankommen, ob die Strafverfolgungsbehörden Vorratsdaten genutzt hätten (was ja kaum überraschen kann, wenn sie vorhanden sind), sondern allein darauf, ob vergleichbare kriminalistische Erfolge auch ohne Vorratsdatenspeicherung zu erzielen wären. Insofern scheint die Kommission die sonst nur aus deutscher Sicht vorgetragenen Fragezeichen beim konkreten Nutzen der Vorratsdatenspeicherung also jedenfalls zum Anlass zu nehmen, sich um eine bessere empirische Grundlage zu bemühen.

In einer weiteren Runde nahmen die Justizvertreter zu den nationalen Prozeduren beim Abruf von Vorratsdaten Stellung. Diese wurden durchweg als effektiv und aus Datenschutzsicht hinreichend bezeichnet, wobei allerdings deutlich wurde, dass sowohl die Zwecke, zu denen Vorratsdaten abgerufen werden dürfen, als auch die Abrufverfahren sehr unterschiedlich geregelt sind. Die meisten Staaten scheinen im Regelfall keinen Richtervorbehalt zu kennen, fast überall sind die Staatsanwaltschaften, gelegentlich auch die Polizeibehörden zum eigenständigen Abruf berechtigt. Auch die materiellen Voraussetzungen eines Abrufs scheinen tendenziell niedriger zu liegen als die Schwelle der „serious crimes“, die in der Richtlinie als Zweck der Speicherung genannt ist: In aller Regel genügt „any criminal investigation“, um auf Vorratsdaten zuzugreifen.

Gegen Ende der Veranstaltung wurde intensiv über die Frage diskutiert, wie der Austausch von Vorratsdaten über Ländergrenzen hinweg „effektiver“ gestaltet werden könnte. Insbesondere der Vertreter der belgischen Staatsanwaltschaften vertrat die Auffassung, dass hier das Anerkennungsprinzip gelten müsse: Jeder Mitgliedstaat solle seine Provider verpflichten, Vorratsdaten bereits dann herauszugeben, wenn eine Anfrage von einer Stelle eingehe, die nach dem Recht des anfragenden Staates zum Abruf berechtigt sei. Das verstehe sich in einer Europäischen Union wohl von selbst und bedeute zB, dass deutsche Provider „natürlich“ auf einfache Anforderung der belgischen Polizei oder Staatsanwaltschaft alle gewünschten Vorratsdaten übermitteln müssten, sofern die anfragende Stelle nach belgischem Recht zu einer solchen Anfrage berechtigt sei.

Dem trat wiederum der Vertreter der deutschen Justiz entgegen: Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung stehe fest, dass nach deutschem Verfassungsrecht der Abruf von Vorratsdaten in aller Regel – mit der Ausnahme der Ermittlung von Anschlussinhabern bei bekannter IP-Adresse – einem Richtervorbehalt unterliegen müsse. Dies dürfe keinesfalls über eine Richtlinie zum Datenzugriff unter einfacheren Bedingungen unterlaufen werden, wolle man nicht den nächsten Konflikt zwischen dem Grundgesetz und einer Norm des europäischen Sekundärrechts (wie etwa 2004/2005 beim Konflikt um den Europäischen Haftbefehl) provozieren. Dieser Einwand wurde – soweit erkennbar – von den Kommissionsvertretern sehr interessiert verfolgt, sodass hier ein Unterlaufen des grundgesetzlich gebotenen Schutzniveaus vermutlich nicht vorgeschlagen werden wird, sofern die Novelle der Richtlinie überhaupt Regelungen zum grenzüberschreitenden Datenabruf treffen wird.

Insgesamt entstand beim „Stakeholder Hearing“ der Eindruck, dass sich die Kommission nach dem eher unbefriedigenden Evaluationsbericht zur Vorratsdatenspeicherung ernsthaft für die Sichtweise der Justiz aus den Mitgliedstaaten interessiert. Gerade die im europäischen Vergleich pointiert datenschutzfreundliche deutsche Sichtweise schien bei der Kommission jedenfalls auf deutlich mehr Verständnis zu treffen als bei den Justizvertretern der übrigen am 19. September repräsentierten Mitgliedstaaten. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die aus Deutschland vorgetragenen Bedenken im Konzert der europäischen Stimmen eher eine Einzelmeinung darstellen. Der großen Mehrheit der Justizvertreter scheint schon die bloße Möglichkeit eines Sicherheitsgewinns zur Begründung einer sehr weitgehenden Datenspeicherung auszureichen, ohne dass ein Bedürfnis nach einer echten Verhältnismäßigkeitsprüfung sichtbar würde.

posted by Stadler at 12:16  

23.9.11

Der Papst und seine Rede über das Naturrecht und die Vernunft

Gerade weil ich erhebliche Vorbehalte gegen eine Rede des Papstes im deutschen Bundestag hatte, habe ich mir den Inhalt nochmals genauer angeschaut. Denn es wäre zu einfach, die Rede als irrelveant abzutun, nur weil sie vom Papst stammt.

Was hat er also gesagt? Inhaltlich war seine Rede eher abstrakter, rechtsphilosophischer Natur, natürlich ergänzt um den obligatorischen christlichen Unterbau. Der Papst hat im Wesentlichen über die Natur und die Vernunft als die zentralen Quellen des Rechts gesprochen und hierzu u.a. auch die These aufgestellt, dass sich die christlichen Theologen einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen hätten, die auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verweist. Wörtlich hat der Papst ausgeführt:

Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, daß sich die
christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben.

Diese Betrachtung blendet freilich aus, dass sich speziell die katholische Kirche in nahezu der gesamten Zeit ihres Bestehens nicht nach diesen Prämissen verhalten hat. Erst als mit dem Zeitalter der Aufklärung die antiken, naturrechtlichen Ideale an politischem Einfluss gewannen und dadurch die das Mittelalter prägende Vorherrschaft der katholischen Kirche langsam beendet wurde, ist es besser geworden in Europa. Die Amtskirche steht keineswegs in der Tradition der Vernunft und des Naturrechts. Vielmehr mussten ihr diese fundamentalen Werte in einem zähen Ringen praktisch aufgezwungen werden. Und auch heute hat man leider noch den Eindruck, dass wir es mit einem hierarchischen Apparat zu tun haben, der zur Diskriminierung neigt. Meiner Vorstellung von Vernunft entspricht dies, trotz vieler schöner Reden, immer noch nicht annähernd.

Dass der Papst allerdings dann die ökologische Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren gelobt hat und zwar explizit als in der Tradition von Natur und Vernunft stehend, war nicht nur überraschend, sondern stimmt zuversichtlich. Auch wenn dieser Papst schon des Öfteren Hoffnungen genährt hatte, die sich dann nicht erfüllt haben.

posted by Stadler at 15:09  

31.3.11

SWIFT-Abkommen: USA speichern auf Vorrat

Wie Spiegel Online berichtet, hat die EU-Kommission schwere Fehler bei der Umsetzung des Swift-Abkommens eingeräumt. Die USA speichern offenbar Daten europäischer Bankkunden auf Vorrat und verschweigen die Zahl der Zugriffe. Dass eine unkontrollierte Datenübermittlung an die USA stattfindet, ergab sich schon aus einem Bericht von Europol vom 01.03.2011.

Diese Erkenntnis ist freilich wenig überraschend, weil genau diese Entwicklung im Swift-Abkommen selbst so angelegt ist. Wer den US-Behörden faktisch unkontrollierten Zugriff auf Bankdaten europäischer Bürger einräumt, muss sich anschließend nicht darüber wundern, dass die Amerikaner davon exzessiv Gebrauch machen. Manchmal fragt man sich ganz ernsthaft, ob die Mitglieder der EU-Kommission und der Parlamentsmehrheit tatsächlich so naiv sind oder nur so tun.

Der Abgeordenete Alexander Alvaro (FDP), der jetzt so vehement die Aussetzung des SWIFT-Abkommens fordert, hatte dem Abkommen zuvor im Europarlament zugestimmt und damit genau den Zustand herbeigeführt, den er jetzt beklagt.

posted by Stadler at 14:18  

28.3.11

Das böse Tracking

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar hat letzten Freitag ein neues Programm namens Prividor vorgestellt, das Datenschutzverletzungen auf Websites aufspüren soll, u.a. den Einsatz von Tracking-Tools. Das impliziert die Behauptung, Tracking würde eine Datenschutzverletzung darstellen und wirft die Frage auf, ob das was Schaar vorhat, nicht ebenfalls Tracking ist.

Die deutschen Datenschutzbehörden haben sich in letzter Zeit bereits mehrfach als Steinewerfer im Glashaus entpuppt, die nicht in der Lage sind, ihre eigenen hochgesteckten Standards einzuhalten.

Bevor die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern in einem rechtlichen Graubereich Fakten schaffen – Tracking ist nämlich keineswegs unstreitig und in jedem Fall datenschutzwidrig – wäre der (europäische) Gesetzgeber gut beraten, klare Regelungen zu schaffen und den Irrweg, den er mit der „Cookie-Richtlinie“ beschritten hat, wieder zu verlassen. Ein gewisse Entspannung würde dem Datenschutzrecht gut tun und könnte dazu führen, dass die Regelungen endlich auch in der Praxis funktionieren.

posted by Stadler at 21:39  

22.3.11

Ungarns neue Verfassung als nationales Glaubensbekenntnis

Der geschätze Kollege Max Steinbeis ist gerade in Budapest und berichtet in seinem Blog über den Verfassungsentwurf, den die Fidesz, die Partei des ungarischen Premierministers Viktor Orbán, die im ungarischen Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, soeben vorgestellt hat und der zügig verabschiedet werden soll. Um es vorwegzunehmen: Der Bericht von Steinbeis verheißt nichts Gutes.

Die Präambel der geplanten neuen ungarischen Verfassung trägt die Überschrift „nationales Glaubensbekenntnis“ und glänzt insgesamt durch nationalistische Rhetorik. Was Steinbeis im Weiteren beschreibt, klingt nicht minder bedenklich. Viktor Orbán hat ganz augenscheinlich vor, ein nationalistisches und von ihm autokratisch geführtes Staatswesen zu errichten. Der Vergleich mit Putin ist deshalb nicht nur angebracht, sondern drängt sich förmlich auf.

posted by Stadler at 10:25  

11.3.11

Swift-Abkommen: Unkontrollierte Datenübermittlung an die USA

Die bisherige Umsetzung des sog. SWIFT-Abkommens, durch das US-Behörden Zugriff auf Bankdaten europäischer Bürger erhalten sollen, hat die bereits bestehenden Befürchtungen vollumfänglich bestätigt.

Im Rahmen des SWIFT-Abkommens werden Bankdaten ohne ausreichende Überprüfung durch EUROPOL sehr großzügig übermittelt. Nach den Ergebnissen des Europol Inspection Reports vom 01.03.2011 waren die bisherigen Anfragen der US-Behörden so abstrakt formuliert, dass eine konkrete Prüfung auf Einhaltung der Vereinbarungen überhaupt nicht möglich war. Gleichwohl hat Europol jede dieser Anfragen genehmigt. Der Bericht weist außerdem darauf hin, dass mündliche Informationen der USA eine Rolle gespielt haben sollen. Diese mündlichen Informationen werden Europol von den USA aber nur unter der Voraussetzung gegeben, dass keine Aufzeichnungen gemacht werden. Damit wird genau die Intransparenz erzeugt, die das SWIFT-Abkommens eigentlich vermeiden sollte.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte sieht dringenden Handlungsbedarf, der Vorsitzende des österreichischen Datenschutzrates Johann Maier fordert die Aussetzung des SWIFT-Abkommens.

Warum das SWIFT-Abkommen jeden Europäer betreffen kann, habe ich in einem älteren Beitrag erläutert. Gekoppelt mit einer laxen Übermittlungspraxis von EUROPOL führt dies im Ergebnis dazu, dass die Amerikaner praktisch nach Belieben die Bankdaten europäischer Bürger abfragen können. Das Europäische Parlament hat sich im letzten Jahr, nach einer kurzen Phase des Aufbäumens, leider dem Druck des Rates und der USA gebeugt und das Abkommen bestätigt. Der zahnlose Tiger EU-Parlament schützt die Rechte der europäischen Bürger nicht ausreichend. Gleiches gilt für die Bundesregierung, deren Mitglieder ansonsten gerne ein hohes Datenschutzniveau fordern. Damit könnte man bei SWIFT ja endlich anfangen.

posted by Stadler at 10:51  
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