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Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

10.11.11

Das Europaparlament ist gar kein richtiges Parlament

Das Bundesverfassungsgericht hat gestern (Urteil vom 09.11.2011, Az.: 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10) entschieden, dass die 5-Prozent-Hürde bei den Europawahlen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien verstößt, undhat die der Sperrklausel zugrunde liegende Vorschrift des § 2 Abs. 7 Europawahlgesetz (EuWG) für nichtig erklärt.

Die Begründung die das Gericht liefert ist diskussionsbedürftig.

Das BVerfG weist zunächst darauf hin, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel zu einer Ungleichgewichtung der Wählerstimmen führt, wodurch der Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt wird. Diese grundsätzliche Überlegung trifft allerdings auf alle Wahlen zu.

Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht des Gerichts eine Fünf-Prozent-Hürde nicht per se unzulässig, aber sie bedarf stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Und einen solchen Grund sieht das Gericht zwar für die Bundestagswahlen, nicht aber für die Europawahlen.

Denn, so das Gericht sinngemäß, das EU-Parlament ist gar kein richtiges Parlament, weil es nicht dieselbe Funktion erfüllt wie der Bundestag und auch nicht über vergleichbare Kompetenzen verfügt . Wörtlich liest sich das dann so:

Eine – bei der Wahl zum Deutschen Bundestag – vergleichbare Interessenlage besteht auf europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen nicht. Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde. Zudem ist die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängig ist.

Diese Betrachtung ist sicherlich nicht falsch, denn sie beschreibt letztlich nur, das auf EU-Ebene nach wie vor vorhandene strukturelle Demokratiedefizit.

Dennoch  halte ich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung für problematisch. Denn sie trägt der erheblich gewachsenen Bedeutung des Europaparlaments in den letzten Jahrzehnten nicht Rechnung. Ein beträchtlicher Teil gerade auch der gesetzgeberischen Grundentscheidungen wird nicht mehr in Berlin sondern in Brüssel getroffen. Das EU-Parlament ist zwar von einem originären Gesetzgeber noch weit entfernt, aber es hat durch die Verträge von Maastricht und Lissabonn eine deutliche Aufwertung erfahren. Das Europäische Parlament ist mittlerweile an mehr grundlegenden gesetzgeberischen Entscheidungen unmittelbar beteiligt als der Bundestag und hat in vielen Bereichen zumindest die Möglichkeit die Rechtsetzungsvorschläge der Kommission zu verhindern.

Die Bedeutung des Europaparlaments ist deshalb mittlerweile wohl höher als die des Bundestages. Auch wenn das in der Öffentlichkeit so nicht wahrgenommen wird. Denn dem Bundestag verbleibt bei den EU-Richtlinien letztlich nur noch die Pflicht zur Umsetzung, regelmäßig ohne nennenswerten Gestaltungsspielraum.

Man muss sich außerdem auch die Frage stellen, ob die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts nicht auch auf die Bundestagswahlen zu übertragen wären und ob die jetzt vorgenommene Differenzierung zwischen Europa- und Bundestagswahlen deshalb nicht inskonsequent ist.

Auch wenn die Fünf-Prozent-Hürde eine Lehre ist, die man aus der Handlungsunfähigkeit des Reichstags der Weimarer Republik gezogen hat, muss die Frage erlaubt sein, ob sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Verlauf der letzten 60 Jahre nicht so deutlich geändert haben, dass dieses Argument letztlich verblasst. Würde der Bundestag tatsächlich handlungsunfähig, wenn man die Fünf-Prozent-Hürde abschafft bzw. würde dies Regierungsbildungen wirklich so stark erschweren, dass es gerechtfertigt ist, den Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit zu beeinträchtigen?

Die Entscheidung des Bundesverfassungerichts erscheint mir in sich nicht wirklich schlüssig und stringent. Sie erging auch nur mit 5:3 Stimmen und in der Begründung sogar nur mit 4:4. Das Sondervotum der scheidenden Verfassungsrichter Di Fabio und Mellinghoff ist beachtenswert.

Die beiden Richter weisen darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Europawahl noch 1979 als gerechtfertigt angesehen hat, während man sie heute, trotz beträchtlicher Kompetenzzuwächse sowie einer deutlich gestiegenen politischen Bedeutung des Europaparlaments, für nicht mehr gerechtfertigt erachtet und beklagen, dass nicht hinreichend dargelegt wird, weshalb und inwieweit sich der Beurteilungsmaßstab verändert hat.

Ebenfalls kritisch und wie immer lesenswert äußerst sich Max Steinbeis in seinem Verfassungsblog.

posted by Stadler at 13:26  

9 Comments

  1. Europa ist ja auch nicht demokratisch, also was solls.

    Comment by Frank — 10.11, 2011 @ 14:08

  2. Die hier geübte Urteilskritik ist meines Erachtens selbst wenig stringent.

    Einserseits wird auf die Beschreibung der derzeitigen Funktionen des Europaparlaments durch das Bundesverfassungsgericht Bezug genommen, wonach es unter anderem keine Unionsregierung, die auf die fortlaufende Unterstützung des Parlaments angewiesen wäre, wählt.

    Andererseits soll die Entscheidung der erheblich gewachsenen Bedeutung des Europaparlaments in den letzten Jahrzehnten nicht Rechnung tragen.

    Die „Betrachtung“ des Bundesverfassungsgerichts beschreibt aber nicht „letztlich nur, das auf EU-Ebene nach wie vor vorhandene strukturelle Demokratiedefizit“, sondern den fundamentalen Unterschied zwischen den Aufgaben und Befugnissen des Europaparlaments und beispielsweise dem Deutschen Bundestag. Wenn das Europaparlament keine Stabilitätsfunktion für die Regierung hat, kann man das stets für die Zulässigkeit der 5%-Sperrklausel herangezogene Stabilitätskriterium eben nicht ohne weiteres auf die Wahlen zum Europaparlament übertragen. Daran ändert auch die „gewachsene Bedeutung“ des Europaparlaments nichts.

    Wenn man an dem Urteil Kritik üben möchte, muss man sich meines Erachtens in erster Linie hiermit auseinandersetzen und darf sich nicht auf oberflächliche Kritik beschränken. Sowohl der hier vorgetragenen Kritik als auch der von Herrn Steinbeis mangelt es aber an einer substantiellen Auseinandersetzung mit den Annahmen des Bundesverfassungsgerichts.

    Comment by Fasscool — 10.11, 2011 @ 14:55

  3. Bei allem Verständnis für die Kritik an einer schwachen Argumentation des Gerichts sollte man die Realität des EU-Parlaments beachten. Die Mandate verteilen sich auf 162 Parteien und nicht auf 6, wie im Bundestag. Die hohe Zahl ergibt sich nicht, weil in jedem Land 162 Parteien kandidieren, sondern weil in 27 Ländern gewählt wird. Schon wenn aus jedem Land Abgeordnete von 6 Parteien kommen, erreicht man diese Zahl. Man kann sicher nicht behaupten, dass sich die Situation im EU-Parlament verschlechtern würde, wenn weitere 6 oder 7 Parteien ins Parlament einzögen. Dass die EU keine demokratische Organisation ist, lässt sich dieser Tage wieder gut beobachten. Wenigstens die Wahl ein wenig demokratischer zu machen, die Abschottung zu Gunsten der Altparteien aufzubrechen und damit ggf. auch dafür zu sorgen, dass nicht die Versorgung altgedienter Politiker im Mittelpunkt steht, könnte die Legitimation des Parlaments steigern. Zustimmen kann ich der Kritik an der Stelle, dass das Gericht eine der steigenden Bedeutung konträre Begründung liefert. M. E. sollte daher konsequent auch die 5% Hürde bei der Bundestagswahl fallen. CDU/CSU/FDP/SPD und Bündnis 90/Die Gurken sind einander so ähnlich, dass mehr Vielfalt eher ein Gewinn darstellen dürfte. Zudem kann ich keinem Gesetz entnehmen, dass Regierungsbildung einfach sein muss, eine Regierung sich immer der Mehrheit im Parlament gewiss sein muss und Abgeordnete sklavisch als Stimmvieh agieren müssen.

    Comment by M. Boettcher — 10.11, 2011 @ 21:32

  4. Was heißt hier „noch 1979“ – davor gab es gar kein aus Wahlen hervorgegangenes europäisches Parlament.

    Comment by kb — 11.11, 2011 @ 00:08

  5. Was doch eigentlich am Europaparlament schön und im Bundestag verloren gegangen oder nie vorhanden war, ist, dass Beschlüsse in den Ausschüssen im Parlament oft eine völlig andere Mehrheit finden. Das ist doch ansich erstmal eine tolle Sache. Da scheint es als würden Abgeordnete des Parlaments tatsächlich noch nach Gewissen und nicht nach Fraktionsmeinung entscheiden.
    Vor diesem Hintergrund leuchtet mir die Begründung aus Karlsruhe durchaus ein:

    Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde.

    Comment by Nils — 11.11, 2011 @ 09:05

  6. Das Europaparlament ist eine zweite Staatenvertretung. Wie der RAT, nur mit mehr Leuten.

    Comment by Heikor — 2.01, 2012 @ 01:35

  7. sca

    Comment by Lucas — 5.04, 2016 @ 15:14

  8. warum so lang, mach mal halblang du kek

    Comment by lol — 10.09, 2018 @ 10:48

  9. Ich teile die Argumentation des BVerfG inhaltlich überhaupt nicht: Erstens wählt das Parlament sehr wohl eine Regierung, nämlich die EU-Kommission, bzw. genau wie im Bundestag deren Vorsitzenden, den Kommissionspräsidenten. Zweitens ist die Kommission ist im Gegensatz zur Behauptung des BVerfG sehr wohl auf die „fortlaufende Unterstützung“ durch eine Mehrheit des EP angewiesen: Das Europäische Parlament muss sämtlichen Rechtsakten im regulären Gesetzgebungsverfahren zustimmen, die außschließlich von der Kommission vorgelegt werden können. Außerdem kann das EP sogar einen Misstrauensantrag gegen die EU-Kommission stellen. Dass das Prinzip wechselnder, inhaltlich begründeter Mehrheiten im EP die Regel ist, ist ausschließlich eine Frage der politischen Kultur, die sich von der deutschen Tradition der Koalitionen, Koalitionsverträgen und Fraktionsdisziplin unterscheidet.

    Ich glaube nicht, dass es Europa schadet, wenn auch kleine Parteien aus Deutschland ins EP kommen, aber die Begründung des BVerfG finde ich fragwürdig.

    Comment by Johann Knigge-Blietschau — 28.04, 2019 @ 18:22

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