Desintegriert Euch!
Über eine kurze Besprechung in der aktuellen Ausgabe der guten alten Spex bin ich über ein aktuelles Buch gestolpert, bei dem bereits der Titel andeutet, dass sich ein Autor vorgenommen hat, einer Haltung entgegenzutreten, die derzeit den gesellschaftlichen und politischen Konsens in diesem Land definiert. Und das ist ein ziemliches Brett.
Die heilige Kuh Integration wird von Max Czollek in seinem Essay „Desintegriert Euch“ vielleicht nicht geschlachtet, aber in seiner aktuellen Ausprägung in Frage gestellt. Nicht, weil sich der Autor gegen einen liberalen Staat wenden wollte, sondern weil er in einer Zeit, in der selbst Grüne von einem positiv besetzten Heimatbegriff schwadronieren, nach neuen Allianzen Ausschau halten möchte, die sich von der Idee verabschieden, etwas Ganzes verteidigen zu müssen. Sein Konzept heißt Fragmentierung anstatt identitärer Gruppenzugehörigkeit.
Die Anlehnung an Stefan Hessel im Titel ist wohl eher kein Zufall und Czollek liefert eine Streitschrift im besten Sinne ab, die nicht nur zum Widerspruch anregt, sondern sich vor allem eignet, eigene Positionen und Denkmuster zu hinterfragen. Seinen gegenkulturellen Ansatz empfinde ich vermutlich allein deshalb als erfrischend, weil er Dinge in Frage stellt, die sonst kaum hinterfragt werden.
Czollek schreibt aus einer jüdischen Perspektive und thematisiert vordergründig das deutsch-jüdische Verhältnis, wobei er sich zu jeder Zeit bewusst ist, dass seine eigene Haltung nicht widerspruchsfrei sein kann und gerade die Gegenüberstellung von Deutschen und Juden natürlich wiederum den Mechanismen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung folgt, die er im Grunde kritisiert.
Czollek geht zunächst mit der deutschen Erinnerungskultur an die Shoah hart ins Gericht, bezeichnet sie als Gedächtnistheater und kritisiert die jüdische Gemeinde in Deutschland dafür, dass sie in dieser Inszenierung die ihr zugedachte Rolle einnimmt. Das Begehren der deutschen Politik und Mehrheitsgesellschaft sei auf Entlastung, Läuterung und Wiedergutwerdung ausgelegt und die meisten deutschen Juden würden in diesem Theaterstück, das rein von der deutschen Sichtweise bestimmt werde, mitwirken.
Vom Gedächtnistheater schwenkt Czollek sodann zum Integrationstheater, wendet sich gegen die konservative Vorstellung einer deutschen Leitkultur und bezeichnet die Figur einer christlich-jüdischen Kultur als maximal verlogenen Versuch, speziell Muslime auszugrenzen. Czollek kritisiert eine neue politische Heimatliebe, die mittlerweile bei politischen Akteuren jedweder Couleur anzutreffen ist und sieht in dieser Entwicklung einen politischen Sieg der neuen Rechten.
Czollek widerspricht auch der Vorstellung, bei den Wählern der AfD würde es sich vornehmlich um politisch Frustrierte und Abgehängte handeln, mit denen man eben reden müsse. Seine Streitschrift liest sich stellenweise wie der Gegenentwurf zu „Mit rechten Reden“ von Leo/Steinbeis/Zorn, ein Werk bei dessen Lektüre er wohl ein ähnliches Unbehagen empfunden hat wie ich. Czollek weist zurecht darauf hin, dass die Empfehlungen der drei Autoren die Wirklichkeit der neuen Rechten verfehlt.
Das Pamphlet von Czollek werden Viele als Provokation empfinden und seine Thesen schon allein reflexhaft ablehnen. Wer sich die Mühe macht zu Ende zu lesen, wird bemerken, dass Czollek keine Anarchie predigt und sich seine Aufforderung zur Desintegration nicht gegen die Teilhabe von Minderheiten am gesellschaftlichen Leben richtet. Ganz im Gegenteil. Es geht ihm um eine selbstbestimmte Position, die nicht den Vorstellungen eines deutschen politischen und gesellschaftlichen Mainstreams folgt, den er in seiner jetzigen Ausprägung ablehnt.
Czolleks Polemik ist wuchtig und regt dazu an, eigene Denkmuster zu hinterfragen. Sein Ansatz ist anders als praktisch alles, was ich zum Thema gelesen habe. Es ist gut, wenn jemand mal in eine andere Kerbe haut.
Gerade für jemanden wie mich, der sich zugegebenermaßen eher wenig mit jüdischem Leben in Deutschland beschäftigt hat, ist die Lektüre äußerst instruktiv. Und Czollek streitet mit Leidenschaft und auch etwas Wut für eine bunte und freiheitliche Gesellschaft ohne jegliche kulturelle Dominanz sowie gegen die Verharmlosung der aktuellen rechten Strömungen. Das richtige Pamphlet zur richtigen Zeit. Lest Es!
Max Czollek: „Desintegriert euch!“ Hanser Verlag, München 2018, 208 Seiten.
Am Satz „… sondern weil er in einer Zeit, in der selbst Grüne von einem positiv besetzten Heimatbegriff schwadronieren, nach neuen …“ irritiert die Verknüpfung von „Heimat“ und „schwadronieren“. Will der Autor das näher erläutern?
Comment by Wolf-Dieter Busch — 3.09, 2018 @ 07:27
Neue Denkmuster gibt es viele. Das Problem an der Beziehung Juden-Deutsche zu thematisieren ist nicht die glücklichste Form, erfolgreich für die Zukunft Menschlichkeit politisch, d.h. praktisch, durchzusetzen.
Comment by Rolf Schälike — 3.09, 2018 @ 15:32