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Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

5.7.12

Bundesverfassungsgericht erklärt sich selbst für verfassungsgemäß

Die Wahl und Ernennung der höchsten deutschen Richter ist seit Jahrzehnten Gegenstand eines Streits in der rechtswissenschaftlichen Literatur. Nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Der unbefangene Betrachter würde daraus vermutlich ableiten, dass der gesamte Bundestag, also das Plenum, sowie der gesamte Bundesrat über die Wahl der Verfassungsrichter entscheiden muss. Denn schließlich handelt es sich bei diesem Vorgang nicht gerade um eine Nebensächlichkeit. In der Praxis entscheidet der Bundestag aber keineswegs im Plenum, sondern durch einen mit 12 Mitgliedern besetzen Wahlausschuss, der noch dazu geheim berät und abstimmt.

Eine ganze Reihe renommierter Verfassungsrechtler halten dieses Prozedere für verfassungswidrig. Interessanterweise hat auch der aktuelle Gerichtspräsident und Vorsitzende des Zweiten Senats Andreas Voßkuhle – vor seiner Berufung nach Karlsruhe – die Rechtsansicht vertreten, dass die Wahl der Verfassungsrichter durch das Plenum des Bundestags erfolgen müsse, worauf Wolfgang Janisch in einem pointierten Kommentar in der SZ vom 05.07.12 (S. 1) hinweist.

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat jetzt – unter Vorsitz von Voßkuhle – entschieden, dass die Wahl der Verfassungsrichter durch den Wahlausschuss des Bundestages nicht zu beanstanden ist. In einem gestern veröffentlichen Beschluss vom 19.06.2012 (Az.: 2 BvC 2/10) heißt es zur Begründung:

Die Übertragung der Wahl der Bundesverfassungsrichter auf einen Wahlausschuss, dessen Mitglieder der Verschwiegenheitspflicht unterliegen (§ 6 Abs. 4 BVerfGG), findet ihre Rechtfertigung in dem erkennbaren gesetzgeberischen Ziel, das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit zu festigen und damit seine Funktionsfähigkeit zu sichern. Die Einschätzung, dass das Bundesverfassungsgericht Funktionseinbußen erleiden könnte, wenn die Wahl seiner Mitglieder im Bundestag nicht in einer Vertraulichkeit wahrenden Weise stattfände, mag nicht in dem Sinne geboten sein, dass sie den Gesetzgeber hinderte, andere Modalitäten der Richterwahl zu bestimmen. Das vom Gesetzgeber verfolgte Anliegen ist aber von hinreichendem verfassungsrechtlichen Gewicht, um den Verzicht auf eine Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts im Plenum zugunsten eines Wahlmännergremiums, das mit Zwei-Drittel-Mehrheit entscheidet (vgl. § 6 Abs. 5 BVerfGG) und dessen Erörterungen der Vertraulichkeit unterliegen, zu legitimieren.

Oder mit anderen Worten: Für das Ansehen des Gerichts ist es von besonderer Bedeutung, wenn die Öffentlichkeit nicht erfährt, welche politische Klüngelei im Einzelfall hinter einer Richterernennung steckt. Die Aussage Bismarcks

„Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie“

ist also um die Wahl der Richter des Bundesverfassungsrichter zu ergänzen. Was die Haltung des Gerichtspräsidenten Voßkuhle angeht, wissen wir natürlich nicht, ob er von seinen Kollegen überstimmt wurde, oder ob der Verfassungsrichter schlicht eine andere Rechtsansicht hat als der Rechtswissenschaftler Voßkuhle. Hätten die Richter des Zweiten Senats entschieden, dass die Verfassungsrichter vom Plenum des Deutschen Bundestags gewählt werden müssen, dann hätten sie damit zugleich ihre eigene Ernennung als verfassungswidrig qualifiziert. Und genau aus diesem Grunde ist die Entscheidung im Ergebnis nicht überraschend.

 

posted by Stadler at 14:04  

15 Comments

  1. Letzlich ist es gleich, ob Merkel ihrer Fraktion und der des Koalitionspartner sagt, wer gewählt werden soll, oder nur den besonders getreuen Vasallen, die in dieses Wahlmännergremium geschickt werden.

    Was für mich kritisch daran ist, ist die Frage, wie das Verfassungsgericht in Zukunft solche Wahlmännergremien, wie sie für ESM usw. geplant waren, ablehnen will, wenn es für die eigene Besetzung diese für verfassungsgemäß empfindet.
    Wieso sind Wahlmänner beim Thema Gewaltenteilung akzeptabel und beim Thema demokratischer Legitimation der Staatsgewalt nicht ?

    Comment by Oliver — 5.07, 2012 @ 16:28

  2. Vor kurzem wurde ein neuer Verfassungsrichter ernannt, der in rechtlicher Arbeit ungeübt ist. Vielleicht hat er mal ein bisschen Juristerei studiert. Bekannt ist, dass er schon im Kindergarten seiner Partei gespielt hat und sich dem karrieresüchtigen Andenclub angeschloss. Er machte eine politische Karriere und duldete sogar Menschenrechtsverletzungen in Bundesländern, die von anderen Andenclubern regiert wurden. Beispielsweise wurde Turboabitur gegen UN-Kinderrechtskonvention, Studiengebühren gegen UN-Sozialpakt und gegen mehrere Gesetzbücher verstoßende Büchergelder eingeführt.
    Ich denke an den Club mit grausen.

    Comment by Heinrich Hanke — 5.07, 2012 @ 23:23

  3. Logisch. Hätten sie ihre eigene Ernennung für verfassungswidrig erklärt, wäre damit ja auch dieses Urteil verfassungswidrig zustandegekommen und damit ungültig. Kommt also aufs gleiche raus.

    Comment by niko — 5.07, 2012 @ 23:26

  4. Immerhin vier der Wahlmänner sind Frauen. Insofern ist der Begriff Wahlausschuss, statt Wahlmännergremium, vielleicht doch angebrachter.

    Comment by Ein Mensch — 6.07, 2012 @ 00:02

  5. Welche Rechtsnatur haben eigentlich die „Bemerkungen zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma“?

    Comment by Jens — 6.07, 2012 @ 00:25

  6. Hat die Bundesrepublik eine Verfassung? Wußt ich gar nicht. Kann man die irgendwo einsehen?

    Comment by Kuschi2000 — 6.07, 2012 @ 07:15

  7. „…dass die Wahl der Verfassungsrichter durch das Plenum des Bundestags erfolgen müsse…“

    Vielleicht besser durch die Banken.

    Comment by K. Ahnung — 6.07, 2012 @ 09:24

  8. Das nette an Eurer Westalliiertenhausordnung vulgo „Grundgesetz“ ist ja, dass da einige „Catch 22“-Situationen wie die beschriebene klaglos möglich sind.
    Gebt Euch endlich eine Verfassung, werdet endlich souverän und – zahlt endlich Reparationen aus WWII!

    Comment by Stuff — 6.07, 2012 @ 11:55

  9. Wie sieht es bei einer solchen Entscheidung eigentlich mit Befangenheit aus. Da können doch die Richter nicht über sich selbst urteilen. Für mich ist dies in einem Rechtsstaat ein Unding.

    Comment by Felix — 6.07, 2012 @ 11:57

  10. In der Tat ein erstaunliches Urteil und eine nette Anmerkung, die den SZ-Text und den Voßkuhle-Aufsatz zutreffend aufgreift.

    Eines stimmt aber nicht: Die Richter hätten sich nicht zwingend wegen ihrer eigenen verfassungswidrigen Ernennung „auflösen“ müssen, sondern hätten dem Gesetzgeber auch – wie üblich – eine Übergangsfrist zur Schaffung eines neuen Gesetzes einräumen können.

    Comment by SD — 6.07, 2012 @ 12:44

  11. was will ein Verfassungsgericht, wenn es keine Verfassung u. Friedensvertrag mit den Aliierten gibt, sondern nur ein Grundgesetz, dass dauernd ausgehebelt wird?

    oder versteh ich als Ösi da was falsch?

    Comment by Udo — 6.07, 2012 @ 12:57

  12. Gut, dass dieses Thema mal aufgegriffen wird. Das auch hier wieder Entscheidungen in ein kleines, geheim tagendes Gremium übertragen werden, so wie es auch zukünftig für die EUROrettungsschirm-Entscheidungen geplant ist, ist nicht hinnehmbar, ein Anschlag auf die Demokratie! Ich habe dazu 3 Fragen: Warum bleiben Verstöße gegen Auflagen des BVerG durch die Regierung ohne Strafe? Warum bleibt das Einbringen und Abnicken von durch das BVerfG als verfassungswidrig bezeichneten Gesetzen ohne Strafe? Warum wird das BVerfG nicht direkt vom Volk gewählt in Interesse einer größtmöglichen Gewaltenteilung?

    Comment by Lars — 6.07, 2012 @ 13:10

  13. Verfassungsgebende Versammlung einberufen, Zusammensetzung:
    Vertreter aus allen sozialen Schichten,analog wie sich die Gesellschaft zusammensetzt, Bürger eines jeden Landkreis wählen -sagen wir mal- fünf Vertreter aus nominierten Listen die exakt die örtliche/regionale Bevölkerungsstruktur widerspiegeln.

    Aber das bleibt wohl Träumerei

    Comment by lunaria — 6.07, 2012 @ 14:54

  14. Diese Zustände sind seit dem 28. September 1951 der Öffentlichkeit bekannt. Ebenso bekannt ist, dass die ersten Garnituren des BVerfG zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus alten Nazis rekrutiert wurden. Ich denke da z.B. an Gestalten wie dessen ersten Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff, welcher noch einige Jahre vorher als Chefjurist der Haupttreuhandstelle Ost (die gab es schon damals) für die Legitimierung des Massenmordes an den Bewohnern „Ost-Gebiete“ und an der Verteilung deren Vermögens an den deutschen Volkskörper zuständig war (weshalb man es auch Wohlfühldiktatur nannte). Oder Willi Geiger, als Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg für Todesurteile nach dem Heimtückegesetz zuständig und später Verfasser des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes.

    Ich erinnere nur aktuell an Andreas Voßkuhle, welcher sich mit dem 2. Senat nicht entblödete, die StPO in der Sache 2 BvR 902/06 bewusst falsch als „vorkonstituionelles Recht“ zu bezeichnen, um deren erfolgen haben müssende deklaratorische Nichtigkeitserklärung zu vermeiden, da sie gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG als Gültigkeitsvoraussetzung für Grundrechte einschränkende Gesetze verstößt, wohlwissend, dass die StPO zum 12.09.1950 durch Artikel 9 des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts (BGBl. I – Nr. 40 vom 20.09.1950 S. 455 vom 12.09.1950 – Anlage 3, S. 629) in den Geltungsbereich des Grundgesetzes überführt wurde und mit ihrer Neuverkündung am 12.09.1950 als neues Gesetz in Kraft trat, also diese Vorschrift hätte beachten müssen (vgl. grundrechteforum.de/id/256).

    Das gleiche trifft auf das Bundesverfassungsgerichtsgesetz selbst zu – Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG (u.a.) durch seinen ehemaligen § 42 BVerfGG (vgl. grundrechtepartei.de/id/1256 und grundrechteforum.de/id/1474)

    Man könnte Bücher füllen mit diesen Personen und ihren „Urteilen“. Alles bekannt. Auch dass das Bundesverfassungsgericht die Politik vor den Grundrechten der Bürger schützt und seine Arbeit darin besteht, im Sinne seiner Dienstherren verfassungswidrige Gesetze als „gerade noch so vereinbar“ mit dem Grundgesetz zu deklarieren. Hüter der Verfassung, welcher?

    Aber solange es die Bevölkerung nicht im mindesten interessiert und sie sich rechtlich nicht bildet, wird sich nichts zum rechtsstaatlichen ändern. Die Bevölkerung traut ihren Politikern alles zu, sagt man ihm aber die bittere Wahrheit, will sie keiner wissen und die Opfer beginnen, die Täter zu verteidigen (vgl. wikipedia.org/wiki/Stockholm-Syndrom).

    Ius vigilantibus scriptum.

    Comment by Hans Berger — 7.07, 2012 @ 11:58

  15. Ein interessanter Artikel. Zu Individualmeinungen und Taktikern auf Richterstühlen kann man natürlich allernah spekulieren
    http://blog.delegibus.com/2011/12/18/kippt-das-bundesverfassungsgericht-und-wenn-ja-wohin/
    Das nähert sich bedenklich diese Kurzzusammenfassung
    http://www.gocomics.com/bensargent/2012/04/03

    Comment by ThorstenV — 9.07, 2012 @ 20:56

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