Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

23.11.17

Die Koalition der Mutlosen

Für einen kurze Zeit hatte ich gedacht, es könnte etwas Spannendes passieren. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen schien es zunächst so, als würde Art. 63 GG erstmals richtig mit Leben gefüllt, weil der Bundespräsident gezwungen hätte sein können, dem Parlament eine Bundeskanzlerin vorzuschlagen, die nicht bereits eine vereinbarte Koalition und damit eine gesicherte parlamentarische Mehrheit hinter sich weiß. Das hätte entweder zur Wahl einer Kanzlerin geführt, die eine Minderheitsregierung führt und sich wechselnde Merheiten suchen muss oder nach drei erfolgslosen Wahlgängen zur Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten und anschließend zu Neuwahlen.

Es verdichten sich allerdings mittlerweile die Anzeichen dafür, dass die maßgeblichen politischen Player nicht gewillt sind, derart viel Neuland zu betreten. Das erwartbare Ende der aktuellen Situation besteht daher in der Neuauflage der großen Koalition. Es wäre die Fortsetzung einer Koalition der Mutlosen und für die SPD die Fortsetzung eines politischen Selbstmords auf Raten.

Als Bürger sollten wir uns vor Augen führen, dass große Koalitionen für eine Demokratie zumeist schlecht sind und nicht zum Normalfall werden sollten. Wenn es keine ausreichend große parlamentarische Opposition gibt, stärkt das die politischen Ränder und das Aufkommen der AfD ist sicherlich auch ein Resultat der beiden großen Koalitionen der jüngeren Vergangenheit. Die Situation ist mittlerweile vielleicht nur deshalb etwas anderes, weil die Koalitionäre Union und SPD durch ihre schlechten Wahlergebnisse selbst dafür gesorgt haben, dass diese Koalition, selbst in Zahlen ausgedrückt, nicht mehr wirklich groß sein kann.

Weshalb die Angst vor einer Minderheitsregierung gerade vor diesem Hintergrund derart groß ist, kann ich nicht verstehen. Vermutlich steckt dahinter der urdeutsche Wunsch nach Stabilität und Sicherheit. Aber um welchen Preis? Angela Merkel hätte jetzt die Chance gehabt, sich mutig und kreativ zu zeigen. Die Gefahr, dass sie damit formell scheitert, ist sicher höher, als mit einer großen Koalition im Rücken. Aber war es nicht gerade dieses Konzept des Durchregierens, das bei vielen Bürgern zu Politikverdrossenheit geführt hat, weil das Parlament nur noch wie eine lästige Staffage wirkte, wie ein Ort an dem die wesentlichen Entscheidungen nicht mehr getroffen werden. Und es gibt auch äußerst ermutigende Vorbilder wie Schweden. Dort ist die Minderheitsregierung der Normalfall und nicht die Ausnahme. Und es funktioniert.

Vielleicht sollte sich gerade die SPD an dem orientieren, was Willy Brandt einst propagierte: Mehr Demokratie wagen. Jetzt besteht die Gelegenheit dazu.

posted by Stadler at 19:20  

6 Comments

  1. Wann hat Merkel sich denn jemals mutig und kreativ gezeigt? In nix, wovon sie nicht später wieder Abstand genommen hätte.

    Comment by opalkatze — 23.11, 2017 @ 19:24

  2. Nur so als Hinweis: In der Schweiz gibt es keine Mehrheitsregierungskoalition. Die grossen Parteien stellen die Bundesräte (Bundesrag ~= KanzlerIn). Und bei politischen Fragen müssen dann halt jeweils im Parlament Mehrheit gesucht und gefunden werden. Das führt meiner Ansicht nach doch zu einiger Stabilität, weil da dann nicht eine Koalition einfach alles als „alterntativlos“ durchpeitschen kann, wie es gerade so passt. Andererseits führt das dazu, dass die Prozesse halt etwas länger dauern und dass man halt auch immer gewisse Kompromisse eingehen muss. Aber wie sagt man so schön: Ein guter Kompromis ist, wenn alle Parteien unzufrieden sind.

    Comment by SJ — 23.11, 2017 @ 19:52

  3. Die SPD steht in Sachen „Minderheitsregierung“ vor einem Dilemma. Entweder man vereinbart mit der Union, dass diese nicht auf wechselnde Mehrheiten setzt – dann hätte man eine GroKo ohne SPD-Minister. Oder man lässt das zu, dann sieht sich die SPD bei jeder CDU-CSU-FDP-AFD-Mehrheit (z. B. beim Punkt Obergrenze) dem Vorwurf ausgesetzt, diese Regierung zu stützen.

    Comment by Gerald Fix — 25.11, 2017 @ 16:02

  4. Wenn internet-law und nachdenkseiten so stark divergieren, dann ist das eine Staatskrise ;-).

    Vgl.: „Die SPD soll eine Merkel-Minderheitsregierung tolerieren? Was für eine Schnapsidee“
    http://www.nachdenkseiten.de/?cat=188

    PS: „Wechselnde Merheiten“ würde ich anders schreiben, z. B. „Wechselnde Märheiten“.

    Comment by Schmunzelkunst — 26.11, 2017 @ 12:39

  5. Eine Koalition ist grundsätzlich KEINE erstrebenswerte Einrichtung. Denn eine solche ist nichts anderes als ein Politik-Kartell. Es werden Beschlüsse durchgesetzt, gegen die es parlamentarische Mherheiten gibt. Nicht umsonst sind Kartelle im Wirtschaftsleben verboten, warum sollten Sie in der Politik adäquat sein? Mit einer Minerheitsregierung (was für ein schlimmes und unwahres wort, wurde doch der/die Kanzler/in mit einer Mehrheit gewählt) kommt die Politik von den Regierungs-, Fraktions- und Parteihinterzimmern genau dahin, wo sie das GG haben will: ins Parlament! Die Situation offenbart, dass die Politik ausser Rand und Band geraten ist und inzwischen von den Parteien bestimmt wird, wobei das GG diesen nur eine Mitwirkung zubilligt.

    Comment by mw — 30.11, 2017 @ 20:25

  6. Der Vergleich mit den Kartellen ist richtig, wenn man bedenkt, dass der folgende Text seit Jahren eine Standardformulierung der Koalitionsvereinbarungen ist:

    „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“

    Comment by Schmunzelkunst — 2.12, 2017 @ 18:09

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