Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

26.2.14

Ein paar Gedanken zu den Sperrklauseln bei Wahlen

Das Bundesverfassungsgericht hat heute, die gerade erst eingeführte Dreiprozenthürde für die Europawahl für nichtig erklärt (Urteil vom 26. Februar 2014, Az.: 2 BvE 2/13, 2 BvE 5/13, 2 BvE 6/13, 2 BvE 7/13, 2 BvE 8/13, 2 BvE 9/13, 2 BvE 10/13, 2 BvE 12/13, 2 BvR 2220/13, 2 BvR 2221/13, 2 BvR 2238/13).

Sie sei, so das Gericht, unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen mit den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht vereinbar. Bei der Europawahl am 25.Mai haben also jetzt auch kleine Parteien die Chance ins EU-Parlament einzuziehen, sofern sie zumindest soviele Stimmen erreichen, um eine(n) Abgeordnete(n) zu entsenden. Bei aktuell 99 deutschen Europaabgeordneten genügt ca. 1 % der Stimmen um ein Mandat zu erringen.

Das Sondervotum des Richters Müller erscheint mir beachtenswert. Für die Frage, wann eine Funktionsbeeinträchtigung des Parlaments droht, sieht Müller einen weiten Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers, über den sich der Senat nach seiner Meinung hinweggesetzt hat.

Mich überzeugt diese Rechtsprechung des BVerfG auch deshalb nicht, weil man gleichzeitig die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl weiterhin für verfassungskonform erachtet. Was ist also insoweit das maßgebliche Differenzierungskriterium? Es geht offenbar um die Frage der Funktionsfähigkeit eines Parlaments. Das Bundesverfassungsgericht betont insoweit für nationale Parlamente, dass dort die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist. An dieser Stelle kann man natürlich fragen, ob die Wahl einer stabilen Regierung tatsächlich die vorrangige Aufgabe eines Parlaments ist. Zudem ist ebenso wie für die europäische Ebene unklar, was eine Absenkung oder Preisgabe der Fünfprozenthürde tatsächlich bewirken würde. Möglicherweise nicht viel, außer, dass sich wie in anderen Ländern auch eben mehr als zwei Fraktionen zu einer Koalition zusammenschließen müssen. In Deutschland spukt auch weiterhin das Gespenst von Weimar umher. Man kann allerdings die geselllschaftlichen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse heute kaum mit denen der Zwanzigerjahre vergleichen. Auch in Deutschland dürfte keine Funktionsunfähigkeit des Bundestages drohen, wenn man die Fünfprozenthürde absenkt. Die etablierten Parteien haben an einer solchen Gesetzesänderung nur kein Interesse, weil sie dadurch selbst Mandate verlieren würden.

Meines Erachtens ist das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung einen Schritt zu weit gegangen und ist der Versuchung erlegen, sich auf dem Experimentierfeld EU zum Ersatzgesetzgeber aufzuschwingen. Andererseits erscheint mir die Aufrechterhaltung einer Fünfprozenthürde bei den Bundestagswahlen bei gleichzeitiger Preisgabe jeglicher Sperrklauseln bei den Europawahlen wenig konsequent. Offenbar betrachtet man diese Wahlen auch in Karlsruhe für weit weniger bedeutend als nationale Wahlen. Das ist despektierlich und falsch.

posted by Stadler at 14:17  

15 Comments

  1. Wer oder was ist Europa?
    Kenne ich diese Leute?
    Wozu sollte ich mir völlig Fremde Leute in ein Parlament wählen, das ich nicht kenne und das keinerlei Macht hat, weil sowieso irgendeine Kommission alles bestimmt?
    Ich bin froh, wenn ich halbwegs überschaue, was in Deutschland politisch so abgeht.
    Europa ist weit weg und mir fremd.
    Folglich geht mir dort irgendeine Prozenthürde voll am … vorbei.
    Aber hier in meinem Land, also in Deutschland, da wäre es mir wichtig.

    Comment by Frank — 26.02, 2014 @ 14:34

  2. Kleine Korrektur: Ab diesem Jahr wird Deutschland nur noch 96 Sitze haben, verliert also 3. Nachzulesen u.a. in der Wikipedia.

    Darüber hinaus werden voraussichtlich sogar schon etwas über 0,5% der Stimmen reichen um einen Sitz zu erringen. Siehe http://www.wahlrecht.de/verfahren/faktische-sperrklausel.html

    Comment by Teckpirat — 26.02, 2014 @ 14:36

  3. Also ware es doch nur konsequent, endlich die schwachsinnige 5%-Hürde in Deutschland auch abzuschaffen!

    Comment by Rangar — 26.02, 2014 @ 15:42

  4. Naja, in meinen Augen gibt es 2 Argumente, die die Sachlage in Europa anders als in Deutschland machen.

    1. Im EU-Parlament sind bereits jetzt rd 160 Parteien vertreten. Da ist das Argument von der Zerfaserung oder von Weimarer Verhältnissen deutlich weniger stichhaltig als in Deutschland. Sprich, wenn das Parlament mit 160 Parteien heute funktionsfähig ist, ist es das auch mit 250 Parteien.

    2. In anderen EU Ländern gibt es keine Prozenthürde. Dadurch ist die Stimme eines deutschen Wählers weniger oder mehr wert als die eines Wählers wo es keine Hürde gibt (je nach dem welche Partei er wählt)
    Ausserdem sind dadurch die Wahlchancen für kleine Parteien in Deutschland deutlich schlechter als für Parteien in Ländern ohne Hürde.

    Comment by Alex — 26.02, 2014 @ 15:48

  5. Daneben möchte ich noch zu bedenken geben, dass das Europäische Parlament ohnehin nicht demokratisch gewählt wird (ungleiches Stimmengewicht), so dass die Frage der Sperrklausel eher zur Randfrage wird…

    Comment by Christoph — 26.02, 2014 @ 16:48

  6. Zwei Anmerkungen:

    I.

    Folgt man dem Sondervotum von Peter Müller, dann dürfte man aufgrund einer Prognose des Gesetzgebers (der hier wegen der zufallenden Stimmen für die Regierungsparteien nicht uninteressiert ist) dauerhaft die These „Eine Dreiprozenthürde leistet der parlamentarischen Zersplitterung Vorschub“ der empirischen Verifizierung entziehen. Denn der Gegenbeweis kann ja gerade nicht geführt werden, wenn man sich dem Experiment verschließt. Das ist als parlamentarische Technik und juristische Argumentation schon unredlich.

    II.

    Es hat im Bundestag regelmäßig fraktions- und/oder parteilose Abgeordnete gegeben (Lötzsch, Pau, Tauss, Hohmann, Bastian etc.). Manche waren sicher auch nervig (Wüppesahl). Die Funktionsfähigkeit des Bundestages stellte man aber bereits durch die Geschäftsordnung sicher. Wie das BVerfG-Urteil zu Wüppesahl zeigt, schoss der Bundestag damit manchmal über das Ziel hinaus. Fraktions-/ und parteilose Abgeordnete sind aber sicher kein Problem der Demokratie.

    Comment by Carl — 26.02, 2014 @ 16:59

  7. ein anderer ansatz zu dem thema.

    zugespitzt gefragt warum soll eine %-hürde garant für eine stabile mehrheit sein. hängt es nicht von den parteien selber ab ob sie aufeinander zugehen?

    so wie jetzt die cdu der spd entgegengekommen ist.

    die stimmverteilung kann doch genausogut das jetzige system instabil/unregierbar machen….

    Comment by holger — 27.02, 2014 @ 11:46

  8. @4 Alex Das sehe ich auch so. Beim BVerfG muss nicht Geringschätzung der EU vorgelegen haben, sondern es kann einfach Realismus, was man mit 96 Abgeordneten erreichen kann, gewesen sein.

    Ich frage mich allerdings, zu was die viel gepriesenen „stabilen Verhältnisse“ der Legislative eigentlich gut sein sollen. Eigentlich sollten die Abgeordneten ja frei entscheiden können, tatsächlich aber werden oft Abstimmungen mit einer Fraktions- oder Koalitionsdisziplin gerechtfertigt, also im Endeffekt mit der Notwendigkeit das Supergrundrecht auf stabile Verhältnisse zu schützen. Allenfalls kann ich ein Bedürfnis für gewisse Stabilität bei der Exekutive erkennen, aber die ist ja schon durch das konstruktive Misstrauensvotum gesichert (bzw. sollte sein, vgl. Tricks wie die verkohlte Vertrauensfrage). Ich würde eine amerikanisches Modell bevorzugen, dass die Exekutive unabhängig von der Legislative wählt.

    Comment by ThorstenV — 27.02, 2014 @ 13:30

  9. Es ist sehr wichtig, hervorzuheben, dass ein Parlament mehr als nur der Abnicker von Regierungsinitiativen ist. Ein Parlament ist die Legislative. Je wichtiger und grundlegender die Gesetze sind, über die eine Legislative entscheidet, desto wichtiger ist es, dass die Legislative eine möglichst breite Schicht der Bevölkerung modelliert. Was passiert, wenn das nicht der Fall ist, hat man in den letzten Jahren in Ägypten gesehen. Irgendeine Mehrheit will die restliche Minderheit regieren. Das funktioniert vielleicht bei der Abstimmung über das nächste Wandertagsziel einer Schulklasse, aber bei Verfassungen oder weittragenden Richtlinien ist das Unsinn. Möglichst alle Menschen müssen sich im Gesetzgebungsprozess wiederfinden, damit sie die Gesetzgebung schlussendlich auch akzeptieren.

    Comment by Der dicke Hecht — 27.02, 2014 @ 14:10

  10. Es ist völlig egal wie hoch diese Hürde gesetzt wird um mitbestimmen zu können welcher Politikdarsteller sich in Brüssel, Berlin oder sonst wo sein Schmierentheater aufführen darf.

    Zwei Zitate – Findet heraus wer es sagte

    „Wenn Wahlen etwas ändern würden wären sie verboten.“

    „Diejenigen die Gewählt wurden, haben nichts zu Entscheiden und die, die Entscheiden wurden nicht gewählt.“

    Comment by Zorin — 27.02, 2014 @ 18:13

  11. Der Blogger hat m.E. nicht genügend genau nachgedacht.

    Bundesverfassungsgericht ist mit dieser Entscheidung nicht einen Schritt zu weit gegangen, sondern einen zu wenig:

    Bei nächster Gelegenheit müsste es konsequenterweise auch die 5% Hürde für den Bundestag abschaffen.

    Comment by irgendeiner — 27.02, 2014 @ 22:33

  12. Tja, die Begründung gegen eine x% Hürde ist ja, dass Parteien mit nur wenigen Abgeordneten keine Fraktion bilden können. Und die Arbeit sei zuviel für einen Einzelnen. Der könne rein zeitlich nicht in alle Ausschüsse gehen. Außerdem würden ohne %-Hürde radikale Parteien gestärkt.

    Und da soll sich dann der Bürger dann ein konkretes Bild von Europapolitik machen können? Wenn Abgeordnete das schon nicht können? Man muss schon sehr weit weg vom Bürger sein, um so zu argumentieren.

    Ich persönlich finde, Demokratie muss extreme (i,d,R kleine) Parteien aushalten oder eben „radikal“ definieren und Parteien verbieten, die gegen Grundrechte verstoßen (oh, oh).

    Ich finde ich es nicht minder fatal, wenn radikale Parteien eben mehr als x% bekommen und man sich erst dann dem Problem annimmt (oder auch nicht). Die %-Hürde ist hier absolut kein Argument.

    Radikale Parteien bekämpft man am Besten, wenn die etablierten Parteien bürgernahe, ordentliche und transparente Politik machen. Es ist also nicht falsch, wenn den etablierten Parteien ein wenig Dampf unter dem Hintern gemacht wird. Die Hürde muss weg.

    Comment by Joachim — 28.02, 2014 @ 14:47

  13. Peter Müller, die Unterwanderung mit Politikern zeigt erste Resultate. Er wird nicht der letzte sein.

    Comment by Grundgesetz — 28.02, 2014 @ 19:22

  14. Ich finde es vor Allem kurios, dass bei einer Wahl, bei der es eh keine Stimmengleichheit zwischen den einzelnen Ländern gibt, eine 3-Prozent Hürde in Deutschland wiederum am Fehlen genau dieser Stimmengleichheit scheitert.

    http://www.mister-ede.de/politik/bverfg-urteil-zur-sperrklausel/2386

    Comment by mister-ede — 28.02, 2014 @ 20:58

  15. Es ist schon erstaunlich, dass es in der öffentlichen Debatte bisher (anscheinend) nur die Dichotomie „im Parlament“–“nicht im Parlament“ gibt, obwohl die komplette Verweigerung von Sitzen weit über die weitgehend akzeptierte Schutzfunktion gegenüber der Chaotisierung des Parlaments durch Minigruppen hinausgeht. Da der Ausschluss für diesen Schutz nicht erforderlich ist, kann er nicht rechtmäßig sein:

    http://www.hauke-laging.de/ideen/abgeordnete_ohne_stimmrecht/

    Zusammenfassung
    Um die ungerechtfertigten Nachteile für Parteien, die (knapp) an der Sperrklausel scheitern, abzufedern, soll eine Gruppe von Abgeordneten zweiter Klasse geschaffen werden, die von diesen Parteien gestellt werden, aber kein Stimmrecht haben.

    Comment by Hauke Laging — 7.08, 2014 @ 15:43

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