Die Piraten und der Mediensprung
Die Mainstream-Medien überbieten sich plötzlich in mehr oder minder geistlosen Versuchen, Gründe für den überraschenden Wahlerfolg der Piraten in Berlin zu finden. Die meisten Rundfunk- und Print-Journalisten scheinen dabei den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Denn nur der Umstand, dass sie – die Vertreter der klassischen Medien – in zunehmendem Maße über die Piraten berichtet haben, hat den Wahlerfolg in Berlin überhaupt möglich gemacht.
Obwohl wir also gerade Zeugen eines medialen Lehrstücks geworden sind, das zeigt, wie sich unsere Mediendemokratie einerseits wandelt, andererseits aber weiterhin altüberkommene Mechanismen greifen, erzählen uns die Kommentatoren die Geschichte des digitalen Wutbürgers, der digitalen Boheme oder ähnlichen Unfug.
Dabei ist der mediale Aspekt, den ich hier Mediensprung nennen möchte, ausschlaggebend dafür gewesen, dass die Piraten von 4 auf 9 Prozent klettern konnten. Den Erfolg, über dessen Gründe sie noch rätseln, haben die alten Medien letztlich durch ihre eigene Berichterstattung erst ermöglicht. Es handelt sich im Grunde also um eine mediale self-fulfilling-prophecy.
Vor ein paar Wochen, als die Piratenpartei in den Umfragen oft noch unter „Sonstige“ geführt wurde, obwohl sie bereits stabil auf einem Niveau von ca. 4 % lag, konnte man beobachten, wie es ihnen mehr und mehr gelang, in den Hauptnachrichten (Tagesschau, Heute-Journal) zu landen und allmählich auch einen eigenen Balken in den Präsentationen der Umfragen zu bekommen. Parallel haben auch die Print-Ausgaben der Zeitungen vor der Berlin-Wahl begonnen, sich verstärkt mit dem Phänomen Piratenpartei zu beschäftigen.
Mit diesem Sprung raus aus den reinen Online-Medien und rein in die alte Medienwelt des Fernsehens und der Tageszeitungen wurde eine neue Zielgruppe erreicht. Die Piraten drangen erstmals in das Bewusstsein von Menschen vor, die ihre politischen Informationen immer noch primär aus den Tagesthemen und den Zeitungen beziehen.
Auch wenn mittlerweile die Mehrheit der Deutschen das Internet nutzt, sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass sie sich deshalb auch alternativer Informationsquellen bedienen. Für die nicht twitternde und nicht bloglesende Mehrheit ist selbst Spiegel-Online schon Avantgarde.
Das von mir als Mediensprung beschrieben Phönomen, könnte man auch unter dem Stichwort „digital divide“ diskutieren. Mich irritiert in jedem Fall aber, dass der mediale Aspekt in den Wahlanalysen kaum eine Rolle spielt, was darauf hindeutet, dass seine zentrale Bedeutung weithin verkannt wird.
Für die Piraten besteht die größte Herauforderung möglicherweise nicht (nur) in einer konstruktiven Parlamentsarbeit, sondern darin, in den Talkshows der ARD eine gute Figur abzugeben. Daran, dass sich die Piraten auf diese klassischen Formate einlassen werden, besteht kein Zweifel. Ob sie sich, wie bislang fast alle anderen, auch formatieren lassen, wird sich zeigen. Morgen soll es bei Anne Will auch bereits losgehen, wie man hört.
Diese selbstverstärkenden Effekte sind auch psychologisch bedingt. Wenn sich zeigt, dass eine Partei die Chance hat über 5% zu kommen, dann wird diese auch ernsthafter als Wahl in Erwägung gezogen.
Das Gegenteil dürfte sicher auch die FDP erfahren haben. Weil man ihr kaum zugetraut hat, dass sie über 5% kam, wurde sie noch weniger gewählt. Warum auch die Stimme dieser Partei geben? Dann lieber eine andere unterstützen.
Ganz klares wahltaktisches Verhalten. Dies hat ebenso zu den Ergebnis geführt.
Comment by Mendola — 20.09, 2011 @ 16:11
Die 4% Aufmerksamkeit waren dafür umso härter erkämpft. :)
Comment by Jan — 20.09, 2011 @ 16:19
Und dieser Effekt wird sich in den nächsten Wahlen weiter verstärken. Der Wähler sieht, dass tatsächlich ein Niemand in ein Parlament gelangen kann, und auch der ein oder andere Wahlverweigerer wird hier die Chance sehen, den ausgeblichenen politischen Regenbogen wieder etwas bunter zu gestalten.
Comment by Dady — 20.09, 2011 @ 16:26
Mainstream-Medien erinnert mich vom Duktus irgendwie an Sarah Palin. ;-)
Comment by Meister — 20.09, 2011 @ 16:29
Es ist so erfrischend, einen so vernünftigen Artikel zu diesem Thema zu lesen.
Ob es allerdings überraschend ist, dass dieser Aspekt nicht in der Berichterstattung ausreichend gewürdigt wird? Nun ja, das ist wohl ein grundsätzliches Problem.
Kommt man als Medienschaffender/Medienunternehmen erst einmal zu einem solchen Schluss, ergeben sich daraus unangenehme Fragen.
Dann wäre man schnell bei der Frage, wie man künftig beispielsweise über angezündete Autos oder Terrorismus berichten soll.
Das Thema Selbsttötung nimmt hier eine Sonderstellung ein – ganz unbekannt ist die Problematik bei den Medienverantwortlichen mithin nicht.
Comment by Oliver Springer — 20.09, 2011 @ 16:40
Schöne Verschwörungstheorie :-)
Da ich die Piraten selbst gewählt habe, will ich auch sagen warum. ich wollte eigentlich Grün wählen, weil mir die Linken hier auf den Sack gehen, auch wenn der Wirtschaftssenator Harald Wolf eine anerkannt gute Wirtschaftpolitik macht. Aber die geifernde Sozialsenatorin, die zurück zum Sozialismus wollte und dreissig Jahre Organisationsentwciklung wegkippen wollte, war unerträglich.
Viele, mit denen ich gesprochen habe, waren dafür, dass Grün an der Regierung beteiligt werden sollte. Aber Renate Künast hat nicht den Eindruck gemacht a) das sie kämpfen wollte, b) dass sie ein Zugewinn wäre.
Bei von Notz warst Du ja auch bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Hat mir auch gut gefallen der Abend mit Ziercke. Auch die Tatsache, dass der Genosse Ziercke gut die 2,5 Stunden durchgehalten hat und gegen Ende auch konstruktiv war. Tauss von den Piraten war ja auch da, wenn auch anonym, als er seine Fragen stellte :-) Aber das war Bund, und nicht Berlin.
Ich habe bis zur letzten Minute mit mir gerungen und mich dann doch für die Piraten entschieden. Ich habe mir gedacht, dass jemand der Millionen und Milliarden nicht auseinander halten kann, auch nicht schlimmer als Thilo Sarrazin sein kann, der 60 Mrd € Schulden als Ergebnis hingelegt hat, die bürgerlichen Einleger der Bankgesellschaft schön mit Staatsgeldern gepampert hat und dafür Schulen, Hochschulen und Kindergärten geplündert hat. Da genaue Gegenteil einer demografieadequaten Investitionspolitik.
Worauf ich stolz bin bei den Old-School-Politikern sind die Gedenkstättenfahrten für Schüler, wo die Kids durch Ausschwitz und Umgebung geschleift werden. Mein Sohn war sofort empört, als hier die „Gas geben“-Plakate der NPD auftauchten. Die ganze Klasse. Die NPD musste die Plakate ganz hoch hängen, weil die Kids sie sonst aus Ekel und Empörung abgerissen hätten.
Wir hatten drei Stimmen hier. Eine davon habe ich den Piraten gegeben. Ich sehe kaum TV, klebe nicht an der SZ oder gar dem Provinzblatt Tagesspiegel und habe den Spiegel wegen des Rechtsrucks nach 35 Jahren abbestellt.
Die Medien hatten nur ganz wenig Möglichkeiten, mich zu manipulieren. Sag ich jetzt mal so als Wähler. Aber aus Freising mag das anders aussehen. Your milage may vary.
P.S.: Rot-Grün hat nur noch eine Stimme Mehrheit. Entweder Wowereit fällt um und macht Rot-Schwarz oder er ist mutig und geht auf Zitterpartie oder er ist ganz mutig und nimmt die Piraten mit in die Regierungspflicht. Das wäre krass. Egal was die Medien meinen. Es würde dem Wählerwillen entsprechen. Und für die Piraten Härte 10: kostenloser ÖPNV aber erst die S-Bahn sanieren und den Schrott ausmustern, der 1990 im Ost-Mitleid in Hennigsdorf gekauft wurde. :-))
Comment by Jan Dark — 20.09, 2011 @ 16:50
Naja, der Blogeintrag ist ein wenig lau.
tl;dr waere also: 1.Piraten wurden bekannte, weil Massenmedien sie ab 4% wahrnahmen.2. Deutsche Massenmedien sind die von Deutschen meist genutzte Medien und im Internet ist es genauso.
…
Da ist der 1. Kommentar schon interessanter.
Wie schon Wahlforscher/-beobachter richtig gesagt haben, ist das Wahlergebnis der Piraten ein Grossstadteffekt und es liegt ein grosser Teil der Last nun auf dieser Landespartei das Vertrauensniveau und den Bekanntheitsgrad der Bundespartei zu heben.
Comment by Bayr — 20.09, 2011 @ 16:58
Also übermäßig viele Piraten-Artikel/Beiträge sind mir persönlich nicht aufgefallen. Vielmehr hat man sich hier in Berlin doch durchaus etwas lustig darüber gemacht. Auch wurde doch z.B. über die Selbstverstümmelung der FDP hier in Berlin mehr gebracht.
Ganz überzeugend fand ich auch diesen Aspekt: Die Institute für Wahlumfragen bedienen sich Telefonbüchern. Die wenigsten unter 35 sind noch im Telefonbuch eingetragen (Behauptung). Daher dieser „überraschende Sprung“ von 4 auf 9%.
VG
Comment by Sebastian — 20.09, 2011 @ 18:14
was sagte der Deutsche Kaiser „Franz Beckenbauer“
Schau’n mer mal
Lasst die Leute a-mal zur Ruhe kommen und beobachten
das ganze Berliner Politgedöns nicht 100 tage sondern
ein weng‘ mehr, und wenn’s so weit ist werde ich mir
eine Meinung g’blildet haben!
Grüß euch alle
Comment by Miaau — 20.09, 2011 @ 19:11
LOL, völliger Unsinn ala Stadler,
die meisten neuen Stimmen für die Piraten kamen von den ehemaligen Nichtwaehlern unter 30 Jahren.
Ich kann mir kaum vorstellen das gerade diese Gruppe etwas darauf gibt was in Printmedien verzapft wird geschweige denn solche überhaupt zur Kentniss nimmt.
Da liegen sie mit ihrer Theorie vollständig neben der Realität.
mfg
yb
Comment by yah bluez — 20.09, 2011 @ 22:32
Aber sogar bei den Über-60-jährigen waren es noch 4%, das Doppelte des FDP-Ergebnisses in der Altersgruppe.
Comment by JK — 20.09, 2011 @ 23:13
Ich finde es schade, wenn hier in diesem Beitrag die Menschen als, ich formulier es vorsichtig, nicht kompetent oder up to date dargestellt werden, welche das Internet nicht als bevorzugte Informationsquelle wählen.
Durch diesen Beitrag, outen sich die Beitragsverfasser als ebenso engstirnig wie die, welche sie selbst anpragnern. Gehört nicht gerade diese Vielfalt zu einer Gesellschaft? Ich denke schon! Schade ist es, wenn genau diese junge Generation genau wie die „Alten“ ebenso fixiert auf die „richtige“ Präsentation reagiert.
Nicht alle Dinge der Vergangenheit sind falsch!
Lernen, nicht verteufeln sollte eine Option sein!
Grüße
Willy
Comment by Willy — 20.09, 2011 @ 23:22
als vor ein paar jahren eine angelo merte das licht der öffentlichen welt erblickte, deren politische ansichten ich nicht teile, habe ich sie dafür geschätzt, dass sie ganz normale menschliche wesenszüge hatte, die jeder kennt und die für jeden ersichtlich waren: unsicherheit, ängstlichkeit, aufgeregtheit, unwissenheit. dank ihrer imageberater- und coaches wurden ihr diese eigenschaften erfolgreich und schnell aberzogen und zu dem das outfit aufgepeppt.
wie die piraten selber sagen, gehen sie mit ihren wissens- und bildungslücken sehr offen um. ich schätze einen menschen mehr, der zugibt wenig oder keine ahnung zu einem thema zu haben als jemanden, der auf eine frage einen fünfminütigen monolog hält, dabei aber nichts sagt. bestes beispiel ist gas-gerd: der hätte auf die frage nach dem gebiß seiner frau ohne zu zögern mit ‚exportweltmeister‘ geantwortet.
ich schätze menschliche wesenszüge mehr als aalglattes und politisch korrektes auftreten und hoffe, das sich die piraten das erhalten. ich denke, damit sind mehr sympatien zu erzeugen.
Comment by euchrid eucrow — 21.09, 2011 @ 08:40
@Willy: Es liegt mir fern die Menschen, die das Netz nicht als Hauptinformationsquelle betrachten zu kritisieren. Ich lese selbst ganz gerne noch Zeitungen und schaue fast jeden Tag irgendeine Nachrichtensendung im Fernsehen. Es ging mir nur darum eine Entwicklung zu skizzieren, die m.E. ohne die „alten“ Medien nicht möglich gewesen wäre.
Comment by Stadler — 21.09, 2011 @ 10:08
Es erstaunt, dass nach der Wahl, so auch in diesem einzigen Blogbeitrag von Herrn Stadler zur Berlinwahl, vor allem diskutiert wird, wie die Piraten es schaffen können, und wer sie gewählt hat.
Mit den Inhalten wird sich dagegen kaum auseinandergesetzt. Ist ja auch klar – Piraten stehen für Internet.
Internet ist aber kein Parteiprogramm, die Grünen stehen ja auch nicht für Wald oder Meer. Sondern wie man damit umgeht.
These: Die meisten jüngeren Leute haben die Piraten gewählt, weil sie hoffen, dass die Piraten dafür sorgen, dass man im Internet all das ungestört machen kann, was man dort gerne machen will … Websiten, Blogbeiträge, Downloads, Uploads, verfügbare Dinge für sich selber nutzen.
Übrigens interessant, wie die Piraten von außen gesehen werden – Blogbeitrag auf der Website einer einer englischen Fach-Zeitschrift zu IP-Themen: http://tinyurl.com/IAM-pirates
Comment by Oliver — 21.09, 2011 @ 11:01
Was heißt morgen? Schon gestern Abend wurden die Piraten bei Markus Lanz mit sehr wohlwollenden Worten bedacht und konnten sich eine gute Viertelstunde selbst präsentieren. Immerhin im ZDF, wenn auch nach 22:30 Uhr …
Comment by Kommentator — 21.09, 2011 @ 11:55
Und wie auch schon zur Bundestagswahl werden die Medien sich ganz schnell wieder wichtigen Dingen zuwenden, wie Gewohnheiten und Affairen von irgendwelchen Sternchen, Schauspielern und Fussballspielern.
Comment by Ein Mensch — 21.09, 2011 @ 13:08
Es ist eben sehr leicht, die Piraten zu verstehen und zu waehlen. Sie machen nichts wirklich Wichtiges und stellen auch keine Ansprueche an den Waehler. Die ideale Partei fuer das 21. Jahrhundert.
Comment by Heiko — 8.10, 2011 @ 18:40