Verfassungsbeschwerde gegen das Zugangserschwerungsgesetz unzulässig
Nachdem netzpolitik.org heute darüber berichtet, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde gegen das Zugangserschwerungsgesetz nicht zur Entscheidung angenommen hat, häufen sich bei mir gerade die Anfragen zu den Hintergründen. Die Verfassungsbeschwerde wurde von Dominik Boecker und mir für vier Beschwerdeführer aus dem Umfeld des AK Zensur erhoben, weshalb ich hierzu ein paar Dinge erläutern möchte.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde als unzulässig bewertet und damit über die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zugangserschwerungsgesetz erst gar nicht entschieden. Der knappe Beschluss vom 29.03.2011 deutet zunächst darauf hin, dass das BVerfG der Ansicht ist, es sei nicht ausreichend dargelegt worden, dass die vier Beschwerdeführer in ihren Grundrechten verletzt sind.
Darauf, dass diese Gefahr besteht und gerade die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kritisch ist, habe ich im Vorfeld auch hier im Blog mehrfach hingewiesen. Die Darstellung, dass ein einfacher Nutzer unmittelbar und gegenwärtig durch ein Gesetz in seinen Grundrechten betroffen ist und gerade eine Entscheidung des BVerfG zum Schutz dieser Rechte notwendig ist, ist ganz allgemein schwierig. Es kommt erschwerend hinzu, dass hier ein Gesetz angegriffen wurde, das nie angewendet worden ist, weshalb streng genommen auch nie jemand betroffen war. Diese Aspekte haben wir im Vorfeld ausgiebig und auch kontrovers diskutiert. In Kenntnis des Riskos hat man sich dennoch entschlossen, die Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG zu wahren, weil nach Ablauf dieser Frist nur noch ein Vollzugsakt angegriffen werden kann und nicht mehr unmittelbar das Gesetz selbst.
Das Gericht erwähnt in seinem Beschluss außerdem die Vorschrift des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG und gibt damit zu erkennen, dass zunächst der Rechtsweg hätte ausgeschöpft werden müssen, sprich zuerst Klagen bei den Verwaltungsgerichten zu erheben sind und dort der Instanzenzug auszuschöpfen ist. Damit hält das Gericht eine unmittelbare Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz – zumindest mit diesen Beschwerdeführern – nicht für möglich.
Ganz generell sollte man wissen, dass Verfassungsbeschwerden grundsätzlich einer Annahme durch das Bundesverfassungsgericht bedürfen und nur in den Fällen die § 93a BVerfGG nennt, eine solche Annahme auch stattfindet. Das führt dazu, dass im Bereich des Ersten Senats ca. 95 % der Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen werden. Die Annahmepraxis des BVerfG ist also äußerst restriktiv, die Nichtannahme stellt den statistischen Normalfall dar.
Wie tröstlich, dass die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde die Regel ist. Auffällig finde ich, dass in letzter Zeit gleich zwei Gesetze angeblich an einer formalen Hürde scheitern (Zensus 2011, Zensursulagesetz), die man als jeden betreffend bezeichnen kann und bei denen man m. E. nicht sehr lange suchen muss, um die kritischen Bereiche zu identifizieren. Sind die Kalgeschrifte wirklich so schlecht oder zeigt sich da als künftige Stil des BVerfG, die legitimen Interessen der Gesamtbevölkerung mit formalen, womöglich an den Haaren herbeigezogenen Gründen abzubügeln?
Bei der nächsten Revolution in DE sollte man unbedingt darauf achten sämtliche Richter auszuwechseln und Regel zu etablieren, die einen politischen Einfluß auf die Besetzung der Obergerichte verhindern. ;)
Comment by M. Boettcher — 20.04, 2011 @ 19:13
Meine persönlichen 2 cent:
Als Laie hätte ich mir eine Entscheidung hier dringendst gewünscht. Das Thema ist äußerst wichtig für den weiteren Verlauf der Demokratie. Denn Tatsche ist nun einmal: unser Leben wird vernetzt, ob wir das wollen oder nicht.
Rahmenbedingungen inwiefern der Staat diese Vernetzung lückenlos kontrollieren darf müssen dringend geschaffen werden. Eine Beschränkung dieser Zugriffs-Rechte durch das Parlament ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht zu erwarten (Fraktionszwang, diese Abstimmungen sind nun einmal NICHT frei).
Selbst wenn das Gesetz die volle Zustimmung des BverfG gefunden hätte, wäre dies aus meiner Sicht ein deutlich besserer Zustand als der Status Quo. Dann wüssten wir wenigstens, woran wir in Zukunft sind. So aber müssen wir weiter abwarten, wie sich unsere Zukunft entwickelt.
Andererseits stellt sich diese Frage vielleicht sowieso nicht mehr, weil das BverfG und die Regierungen von der technischen Entwicklung überrollt werden. So geben viele Leute ja freiwillig ihr komplettes Bewegungsprofil in fremde Hände.
Comment by Trollfresser — 20.04, 2011 @ 19:25
@M.Boettcher:
Das BVerfG wird überschüttet mit Verfassungsbeschwerden. Im Jahr 2010 waren es insgesamt 6.251, oder knapp 25 pro Arbeitstag. Um dieser Flut Herr zu werden, legt es die Meßlatte der formalen Anforderungen traditionell sehr eng an, bevor es sich überhaupt mit dem Inhalt befasst.
Wenn dann wie in diesem Fall herauskommt, dass eben keine konkrete Verletzung vorliegt (obwohl die VB vielleicht von einem wissenschaftlich oder politisch hohen Interesse ist), kommt die VB halt nicht weiter. Konkrete Hilfe kommt vor abstrakter Hilfe, und wenn man höchstens Ressourcen für eines von beiden hat…
Wobei es mich nicht wundern würde, wenn die VB bei dem ein oder anderen professoral tätigen Richter in der nächstbesten Vorlesung auftaucht. Vielleicht schärft sie ja so noch die Sinne von ein oder zwei zukünftigen Verfassungsrichtern, die sich dann im Jahr 2035 an ihr Studium zurückerinnern. :-)
Comment by Andi — 20.04, 2011 @ 20:27
@Andi: Man könnte ja den Verdacht haben, dass eine „Flut“ von Verfassungsbeschwerden mit schlechten Gesetzen und der gestiegenen Neigung von Behörden zu tun hat, die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger nicht sonderlich wichtig zu nehmen. Mir fielen da gleich mehrere Fälle ein, die auszuführen ich mir hier spare. Als ein Stichwort mag Heiligendamm genügen.
Wenn man einem Anstieg, den ich einfach einmal ungeprüft glaube, damit begegnet, dass man formale Kriterien noch enger auslegt, bestätigt das die Vermutung, dass man am höchsten Gericht zur Kanalisierung sachfremde Erwägungen anstellt und verfassungswidrige Zustände letztlich billigend in Kauf nimmt. So dies die Vorgehensweise ist, sollte man bei der nächsten Revolution mindestens Richter der höchsten Gerichte ggf. die Möglichkeit eröffnen kurzfristig auszuwandern oder ganz traditionell über die Klinge zu springen.
Comment by M. Boettcher — 20.04, 2011 @ 21:38
Hat denn jmd zumindest einen Hundertstel der VB aus dem letzten Jahr durchgesehen, falls diese veröffentlicht werden? Wenn nicht, dann bedarf es doch keinen Vermutungen wieso es diese Flut gibt und wieso diese nicht bewältigt werden und eine höhere Messlatte ausreicht.
Comment by Michael — 20.04, 2011 @ 22:57
Also wenn es möglich ist, dass zur Durchsetzung des §335 Abs. 5 HGB am Landgericht Bonn 11 neue Kammern mit insgesamt ca. 30 Richtern geschaffen werden, dann soll es doch möglich sein, auch das wichtigste aller Gerichte, das BVerfG mit ein paar weiteren Mitarbeitern auszustatten, oder ggf. einem weiteren Senat auszustatten, damit der Flut der verfassungswidrigen Gesetze wenigstens ansatzweise Einhalt geboten werden kann.
Bzgl. Anstieg: Die Anzahl der Beschwerden steigt langsam aber stetig und verdoppelt sich seit 1960 ca. alle 25 Jahre. Der Anteil der erfolgreichen Beschwerden liegt die letzten 15 Jahre bei ca. 2% seit 2005 fast durchweg mit fallender Tendenz.
Comment by Ein Mensch — 20.04, 2011 @ 23:12
sorry:
ihr habt verloren. eigentlich allen war das vorher klar. die verfassungsbeschwerde war unsinn. man hätte (mindestens) einen provider vertreten müssen. aber, schweinerei, der professionelle berufsaufreger ak-zensur hat wohl keinen provider auftreiben können, der sich mit ihm genug aufregen wollte. bisschen peinlich, bei dem brimborium, das im vorfeld von den aktivisten gemacht wurde.
und jetzt? bitte keine billige richter-, bundesverfassungsgerichtsüberlastung- oder gesetzesschelte, sondern einfach mal eine niederlage akzeptieren. das gericht in karlsruhe leistet gute arbeit, wenn’s wirklich drauf ankommt, gerade im it-bereich, wenn der staat zu aktiv ist, siehe wahlcomputer, vorratsdatenspeicherung, online-duchsuchung. bei diesem gesetz war mit diesen beschwerdeführern einfach nichts drin.
nochmal sorry.
Comment by b — 21.04, 2011 @ 08:34
@M. Boettcher: Im Falle des Zensus _war_ die Verfassungsbeschwerde so schlecht.
Vgl. http://www.danisch.de/blog/2010/10/02/verfassungsbeschwerde-in-den-sand-gesetzt/
Comment by Jens — 21.04, 2011 @ 09:15
@b:
Das stimmt schon. Wir haben uns auch um einen betroffenen ISP als Beschwerdeführer bemüht, weil uns klar war, dass der die besten Chancen hat, die Zulässigkeitshürde zu überspringen. Es hat sich aber kein größerer Provider gefunden, der bereit gewesen wäre, in den Ring zu steigen.
Comment by Stadler — 21.04, 2011 @ 09:18
Nein, die Verfassungsbeschwerden selbst werden natürlich nicht veröffentlicht.
Und die Entscheidungen selbst, wenn sie keine Begründung haben (das berühmte „leere Blatt“) auch nicht.
Comment by Jens — 21.04, 2011 @ 09:18
Praktisch, einfach ein Gesetz beschließen, dann liegen lassen, damit niemand betroffen sein kann und nach einem Jahr anfangen auszuführen. Ach ja, deshalb ist es ja auch verfassungswidrig, dass die Exekutivesich einfach über die Legislative hinwegsetzt.
Schade, dass es nie genug Abgeordnete gab – von Landesregierungen ganz zu schweigen -, um ein Normenkontrollverfahren anzustrengen. Scheint mir der einzig gangbare Weg für solche Angelegenheiten.
Comment by Dierk — 21.04, 2011 @ 10:16
@Jens (8): das schreibt ein Informatiker, der wohl nicht unbedingt als geeigneter Maßstab für die Qualität einer Verfassungsbeschwerde gelten kann. Zudem lassen seine Formulierungen darauf schliessen, dass er sich mit dem Problem des Zensus 2001 gar nicht auseinandergesetzt hat. So scheint er nicht zu wissen, dass das BVerfG selbst im Urteil zur Volkszählung 1983 von der Verletzung der Menschenwürde schrieb. Und nicht etwa, weil in den 80er Jahren die Drohung mit körperlicher Gewalt im Raum stand, sondern weil eine Ordnungsnummer den Menschen nach Meinung des Gerichts zum Objekt der Staatsgewalt gemacht würde. Genau das soll aber jetzt passieren; es muss sogar, weil man andernfalls die Daten diverser Quellen nicht konsolidieren kann. Herrn D. mag das egal sein, ich kann damit leben. Aber sein Unwissen und seine ungaren Aussagen muss man nicht als Qualitätsaussage zur Klage werten. Eher als geistigen Furz.
Comment by M. Boettcher — 21.04, 2011 @ 14:08
Muss nat. Zensus 2011 heissen; sorry.
Comment by M. Boettcher — 21.04, 2011 @ 14:09
Eine Änderung des BVerfGG ist nach meiner Rechtsauffassung dringend notwendig. Begründete Verfassungsbeschwerden müssen auch zur Endscheidung angenommen werden, denn sonst sind solche Beschwerden unsinnig und untergraben das Grundgesetz. Verfassungswidrigen Beschlüssen/Urteilen etc. sind damit Tor und Tür geöffnet. Die Funktion des BVerfG wird zum; Mehr Schein als Sein. Die Politik ist also gefordert, um das BVerfGG entsprechend zu ändern. Über die Annahme einer Beschwerde entscheiden zunächst die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Senate:
http://www.storm-knirsch.de/ehrlich.htm
Comment by Dieter.Gieseking — 22.04, 2011 @ 12:12
Deutschland kann jeden Bürgerrechtler brauchen. Trotz der Niederlage: Weiter so!
Comment by Seb — 22.04, 2011 @ 17:06
@7:
Klar, ein Provider wäre nicht schlecht gewesen. Aber wieso reichen bitte normale Bürger nicht aus? Alleine, dass dem Bürger diese Überwachung droht reicht meiner Meinung nach aus, um das Gesetz auch so anzugreifen.
Was bringt es denn bitte, wenn erstmal alles mögliche über den Bürger gespeichert wird, er über zig Instanzen gegangen ist und dann erst vorm BVerfG landet? Dann wurde er ja evtl. schon sehr stark in seinen Rechten verletzt – das lässt sich nur durch eine vorherige Beschwerde lösen…
Comment by Alex — 23.04, 2011 @ 21:39
Just for the record (zu 6.):
Statistik des BVerfG zur Verfahrenserledigung von Verfassungsbeschwerden (einschließlich mitentschiedene Verfahren) der letzten fünf Geschäftsjahre (via Florian Altherr)
Comment by Ursula von den Laien — 23.04, 2011 @ 22:30
WORD!
Frohe Ostern, Baxter
Comment by Baxter — 24.04, 2011 @ 03:08
Beim BVerfG war es schon immer inoffiziell so, wie es beim US Supreme Court offiziell ist: das Gericht entscheidet die Fälle, die es entscheiden möchte und die anderen halt nicht. Ganz einfach. Diesen Fall mochte das BVerfG eben nicht entscheiden.
Man hätte die Verfassungsbeschwerde auch annehmen können. Das BVerfG legt immer den Maßstab an die Zulässigkeit an, der ihm gerade in den Kram passt, um einen Fall an sich ziehen zu können oder eben abzuweisen. Gerade im Hinblick auf die Rechtswegerschöpfung bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze ist es mal strenger, mal großzügiger. Im Ergebnis kaum abzusehen.
Comment by code — 25.04, 2011 @ 16:47
Ist damit auch die Organklage von Ex-MdB Jörg Tauss erledigt oder läuft dieses Verfahren noch?
Comment by Matze — 2.05, 2011 @ 10:03
Für mich ist das Verfassunggericht genau so korrupt, wie die ganze „Elite“ .
Die spielen noch ein bischen „Demokratie“ mit uns.
Spitze der Pyramide halt. (aber nicht ganz oben)
Comment by augenohrenmundzu — 10.05, 2011 @ 17:04
@b:
lese ich da raus, dass Sie sich als Sieger fühlen?
Comment by sieger — 3.06, 2011 @ 18:56