Die Bundesregierung stellt die parlamentarische Demokratie in Frage
Das Zugangserschwerungsgesetz ist am 23.02.10 in Kraft getreten und bereits gestern wurden im Bundestag in erster Lesung Gesetzesinitiativen von SPD, Grünen und Linken behandelt, die die Aufhebung des Gesetzes verlangen.
Die Redebeiträge der Union im Bundestag, wie der des Abgeordneten Heveling, sprechen nicht dafür, dass die Bundesregierung beabsichtigt, das Gesetz wieder aufzuheben. Man hört, das Justizministerium würde an einem eigenen Regierungsentwurf eines Gesetzes arbeiten, der bis zur dritten Lesung vorliegen soll. Das wird allerdings mit großer Sicherheit kein Aufhebungsgesetz sein, denn für ein solches bräuchte es keiner großartigen Ausarbeitung. Der Inhalt eines solchen Gesetzes wäre bestenfalls ein Dreizeiler. Stattdessen wird man vermutlich ein „Sperrgesetz“ einbringen, das verschiedene Hintertüren enthält und die bedenkliche technische Infrastruktur bei den Providern aufrecht erhält.
In der Zwischenzeit behilft sich die Bundesregierung mit einem Nichtanwendungserlass, durch den dem BKA aufgegeben wird, das Gesetz nicht anzuwenden und anders als im Gesetz vorgesehen, keine Sperrlisten zu erstellen und an die Provider zur Umsetzung weiterzuleiten.
Die Bundesregierung weist also eine Behörde an, ein in Kraft befindliches Gesetz nicht anzuwenden. Das ist ein in der Bundesrepublik einmaliger Vorgang und gleichzeitig der eklatanteste Verfassungsbruch den dieses Land bisher gesehen hat. Denn eine Regierung, die sich weigert Gesetze anzuwenden, stellt die parlamentarische Demokratie als solche in Frage.
Solche Nichtanwendungserlasse sind im Steuerrecht zum Beispiel schon vorgekommen. Es ist also nicht – wie im letzten Satz bemerkt – ein neuartiger Fall.
Comment by RJonathan — 26.02, 2010 @ 09:17
Im ersten Teil, in dem der Abgeordnete Heveling über die SPD herzieht, hat er natürlich völlig Recht: "Es hat sich faktisch nichts geändert, außer der politischen Konstellation." Und tatsächlich finde ich auch, dass es der SPD in diesem Thema völlig an Glaubwürdigkeit mangelt.
Der zweite Teil bringt dagegen nur die bisher bekannten Argumente: "Wenn die Verteilung von sexueller Gewalt gegen Kinder behindert wird, dann verschwindet auch diese Gewalt selbst." Die Argumentation, die sich auch immer wieder bei den sogenannten Killerspielen zeigt: Nur durch den Konsum werden Menschen zu tätern."
Schließlich läßt sein Ausblick wirklich nichts Gutes hoffen: er sagt klipp und klar, dass eine Aufhebung _ohne_ einen wirksamen Ersatz nicht in Frage komme.
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 09:37
Gibt es eine Möglichkeit auf Erfüllung des Gesetzes zu bestehen?
Ich könnte mir vorstellen als Provider auf juristischem Wege Klarheit zu verschaffen.
Wozu sollte man das machen? Um zu zeigen wie widersinnig und abstrus das Gesetzesvorhaben ist.
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 09:59
@rjonathan: das ist so nicht ganz richtig.
Nichtanwendungserlässe des Finanzministers beziehen sich nicht auf Gesetze sondern auf Urteile des BFHs und sagen aus, deren Urteile als Einzeilfallentscheidung auszulegen und nicht von sich aus auf alle ähnlich gelagerten Fälle zu übertragen.
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 10:12
Die Argumentation des Vertreters des Justizministeriums dazu fand ich eigentlich recht schlüssig.
Die Argumentation war, dass man ja nicht das Gesetz bzw dessen Umsetzung an sich verbiete, sondern eine Abwägung, die im Gesetz vorgesehen ist, bis zum Anschlag in eine Richtung ausdehnt.
Sowohl Sperren als auch Löschen seien im Gesetz vorgesehen, sowie eine Priorisierung, dass Löschen Vorrang vor Sperren haben solle. Gesperrt werden soll, wenn Löschen nicht innerhalb einer geeigneten Frist (evtl auch innerhalb eines geeigneten Aufwandes) Löschen nicht möglich oder erfolgversprechend ist. Diese Frist auf "mindestens bis zum Ergebnis der Evaluation" auszudehnen sollte also noch vom Gesetz gedeckt sein.
Die Frage, die sich mir eher stellt, ist, in wie weit die Anordnung "das BKA soll keine Listen anlegen" vereinbar mit dem Gesetz ist, oder ob es nicht eher "das BKA soll die Liste leer lassen (aber dann entsprechend täglich eine leere Liste übermitteln, etc)" hätte heißen müssen… Sieht vielleicht erstmal nur nach Wortklauberei aus, macht aber den Unterschied, dass die Infrastruktur dabei schon mitläuft.
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 10:32
Detaildiskussionen über dieses unsägliche Gesetz und dem Vorgehen der Regierung in diesem Zusammenhang sind unnütz. Auch "Die Frage, die sich mir eher stellt, ist, in wie weit die Anordnung "das BKA soll keine Listen anlegen" vereinbar mit dem Gesetz ist, […]" stellt sich mir in keinster Weise.
Denn die Regierung kann eine solche Anordnung nach Gutsherrenart nicht geben!
Und wenn ich dann lese: "Die Argumentation war, dass man ja nicht das Gesetz bzw dessen Umsetzung an sich verbiete, sondern eine Abwägung, die im Gesetz vorgesehen ist, bis zum Anschlag in eine Richtung ausdehnt."
Das ist doch der größte Blödsinn seit Erfindung des Grundgesetzes. Eine Regierung hat verflixt nochmal nicht darüber zu entscheiden, ob und/oder wie ein Gesetz angewandt wird.
Falls eine Regierung der Meinung ist, das ein vom Parlament beschlossenes Gesetz ihr nicht passt, dann kann sie einen Antrag ins Parlament einbringen, das Gesetz aufzuheben. Nicht mehr und nicht weniger!
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 11:06
Nach meiner Einschätzung bleiben damals wie heute die Kernpunkte des Gesetzes offen:
1. Ist überhaupt das "richtige" Gesetz verabschiedet worden (1. Lesung bzw. 2./3. Lesung.)
2. Wird nicht das Polizei-Recht der Länder betroffen.
3. Kann die Anwendung eines vom Parlament verabschiedeten Gesetzes in Teilen durch den Erlass eines Bundesministeriums einfach aufgehoben werden.
Zu interessant die Punkte 1. und 2. schon ansich sind, so ist doch der Punkt 3. der für die Demokratie in Deutschland Wichtigste.
Im Augenblick frage ich mich, wer könnte eigentlich zu den Punkten klagen?
Comment by GustavMahler — 26.02, 2010 @ 11:55
Die Nichtanwendungserlasse in der Steuerverwaltung nach Entscheidungen der Finanzgerichte sind hinsichtlich der Gewaltenteilung auch fragwürdig; dennoch sind sie seit langem Praxis. Und hier vom "eklatanteste Verfassungsbruch den dieses Land bisher gesehen hat" zu reden ist auch unnötig, das war nämlich bereits der Einsatz der Streitkräfte im Innern durch Helmut Schmidt 1962, also vor 48 Jahren. Der Verfassungsbruch heute könnte wie damals dennoch von der Mehrheit als legitim angesehen werden. Was das für die Staatspraxis der Zukunft und die Achtung vor der Verfassung bedeutet ist eine andere Frage, hat aber auch 1962 schon kaum jemanden gestört.
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 13:06
zur frage, wer gegen die praxis der regierung, ein gesetz auszusetzen vorgehen könnte, gibt prof. henning ernst müller in einem interview (http://www.news.de/politik/855046049/willkuer-in-berlin/1/) eine interessante antwort:
"Natürlich könnte eine Fraktion des Bundestages dagegen vorgehen und sagen: Ihr müsst dieses Gesetzes ausführen. Aber es gibt ja keine Fraktion im Bundestag, die das im Moment vertreten würde."
Comment by Anonymous — 26.02, 2010 @ 13:35
Entschuldigung aber die BRD beugt Gesetz wie es den Herren Politikern gerade in den Kram.
Comment by Darkling — 26.02, 2010 @ 15:32
Ja so sind sie halt… unsere Volks-Verkäufer… äh -Vertreter…
Oder hatte irgendjemand hier etwas anderes erwartet…?
Comment by Aurisa — 26.02, 2010 @ 21:51
RJonathan:
Nichtanwendungserlasse im Steuerrecht sind qualitativ etwas ganz anderes. Denn sie sind eine Anweisung, ein Urteil eines Finanzgerichts über den konkreten Einzelfall hinaus nicht anzuwenden. Das ist formell deshalb nicht zu beanstanden, weil Urteile nur zwischen den Parteien wirken.
Gesetze hingegen muss die Exekutive anwenden, das steht nicht zu ihrer Disposition. Die Nichtanwendung ist ein Rechtsbrauch.
Comment by Pavement — 27.02, 2010 @ 16:12