Die politischen Entscheider in Europa sind von dem Unmut, den ACTA ausgelöst hat, kalt erwischt worden. Noch in den 00’er Jahren hat man auf Ebene der EU die Enforcement-Richtlinie erlassen und in Deutschland – übrigens beginnend unter einer rot-grünen Koalition – alle Regelungen, die ACTA jetzt enthält, gesetzgeberisch längst vorweggenommen. Deutschland hat ACTA also schon in den letzten zehn Jahren umgesetzt. Dies alles wurde, von einer Fachöffentlichkeit abgesehen, kaum wahrgenommen.
Möglicherweise entlädt sich in den ACTA-Protesten jetzt nur etwas, was bereits sehr lange brodelt. Mich erinnert das in gewisser Weise an Stuttgart21, an die Occupy-Bewegung und ganz allgemein an die Massenproteste, die in vielen Teilen der Welt seit dem vergangenen Jahr stattfinden.
ACTA ist für sich genommen eigentlich unbedeutend, es ist nur ein Mosaikstein, der allerdings Teil einer Agenda ist, die auf die schrittweise Ausweitung des „geistigen Eigentums“ abzielt. Dass das Urheberrecht in einem Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Gemeinwohlinteressen steht, das einem fairen Ausgleich bedürfte, wird dabei schlicht negiert.
Das Konzept des „geistigen Eigentums“ ist letztlich aber nichts anderes als ein Modell des Protektionismus und der Abschottung, von dem man nicht wirklich behaupten kann, dass es im Interesse der Menschen ist, was sich am deutlichsten am Beispiel der Generika-Diskussion zeigt. Weil Patente es erlauben, Nachahmerprodukte zu verbieten und damit den Preis der teueren Orginalmedikamente hochzuhalten, sterben weltweit Menschen. Sie sterben speziell in den Entwicklungsländern deshalb, weil sie sich die teueren Medikamente beispielsweise gegen AIDS nicht leisten können und billige Generika aus patentrechtlichen Gründen nicht verfügbar sind.
Auch wenn neben diesem Beispiel alles anderen verblassen, ist das Grundmodell immer dasselbe. Es geht um die Absicherung der wirtschaftlichen Individualinteressen einer kleinen Minderheit, den Rechteinhabern. In diesem Zusammenhang kommt mir auch immer wieder die Aussage von Mark Getty (Getty Images) in den Sinn, der „Intellectual Property“ als das Öl des 21. Jahrhunderts bezeichnet hat. Deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass man es mit einem Verteilungskampf zu tun hat.
Ob und in welchem Umfang man das Konzept des „geistigen Eigentums“ als legitim betrachtet, ist eine Frage des Standpunktes. Die gängige These, dass dieses Modell, das auf der Gleichsetzung von Sacheigentum und der Inhaberschaft an Geisteswerken beruht, im Interesse der Mehrheitsgesellschaft sei, wird von immer mehr Menschen in Zweifel gezogen. Wenn man anstatt von geistigem Eigentum von Monopolrechten sprechen würde, käme man der Sache vermutlich schnell näher. Denn Monopole werden gerade im Wirtschaftsleben nicht unbedingt als erstrebenswert betrachtet, sondern im Regelfall als volkswirtschaftlich schädlich, weshalb man sie international mit Hilfe des Kartellrechts reguliert und beschränkt. Ein beschränkendes Konzept würde auch dem Bereich des Urheberrechts und der gewerblichen Schutzrechte guttun, jedenfalls dann, wenn man sich an den Interessen der Mehrheitsgesellschaft orientiert. Bis sich diese Erkenntnis durchsetzen wird, ist aber noch ein weiter Weg zurückzulegen, wie die aktuellen Positionen der EU-Kommission zu ACTA zeigen.
Was wir derzeit erleben, ist ein Kulturkampf, der vermutlich gerade erst begonnen hat. Es geht im Kern nicht um ein in der Gesamtbetrachtung zweitrangiges völkerrechtliches Abkommen wie ACTA, sondern um gesellschaftliche Grundsatzfragen. Der Wunsch einer Mehrheit nach Zugang und nach einem möglichst freien Fluss der Information gerät in Konflikt mit den wirtschaftlichen Interessen einer Minderheit, die es bislang geschickt verstanden hat, der Politik einzureden, dass die Verteidigung ihrer Pfründe dem Wohl aller dienen würde.
Der Grund warum ACTA polarisiert, ist wohl der, dass eine wachsende Öffentlichkeit die fortschreitende Verschärfung des Rechts des geistigen Eigentums als Bedrohung empfindet und gerade erstmals auf Umstände aufmerksam wird, die es z.T. schon seit längerer Zeit gibt. Das führt zwar auch dazu, dass Ängste geschürt werden und Falschinformationen kursieren, aber das trifft auf Befürworter und Gegner gleichermaßen zu und entspricht der logischen Dynamik einer sich zuspitzenden Debatte. Speziell in der Netzgemeinde versteht man, trotz aller Hysterie, besser als anderswo, dass die halbwegs erfolgversprechende Durchsetzung des „geistigen Eigentums“ im digitalen Bereich letztlich immer eine Manipulation technischer Standards erfordert. Das ist bei Maßnahmen des Digital-Rights-Management ebenso der Fall wie bei Netzsperren oder Filterkonzepten. Dass freiheitsgefährdende Maßnahmen wie Three-Strikes oder Netzsperren in der endgültigen Fassung von ACTA nicht mehr auftauchen, bedeutet freilich nicht, dass sie damit endgültig vom Tisch sind. Denn die Urheberrechtslobbyisten werden weiterhin alles daran setzen, ihre Individualinteressen notfalls auch gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. Sie treffen damit weltweit immer noch auf zuviel politische Unterstützer. Und diese Erkenntnis führt zu einem berechtigten Unbehagen und zu zunehmendem Widerstand.
Gerade das Netz hat uns mit großartigen Projekten wie Wikipedia gezeigt, dass die Verbreitung von Wissen und Information nach ganz anderen Spielregeln funktionieren kann, als bis vor kurzem angenommen. Wir leben in einem Zeitalter des Umbruchs und es wird notwendig sein, eine ganze Reihe von Mechanismen, die in den letzten hundert Jahren als unumstößlich galten, zu überdenken. Dazu gehört die überkommene Ideologie vom fortwährenden Wirtschaftswachstum ebenso wie das Konzept des geistigen Eigentums in seiner überkommenen Form.