Die Kollegin Jakobs erkennt im Fall Mollath bereits jetzt einen der größten Justizskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte, was man nach bisheriger Faktenlage allerdings für übertrieben halten kann. Andererseits kann man als vernunftbegabter Mensch kaum mehr in Abrede stellen, dass die bayerische Justiz im Fall Mollath erhebliche Fehler gemacht hat und das damalige Urteil gegen Gustl Mollath auf Grundlage der mittlerweile öffentlich bekannten Fakten nicht hätte ergehen dürfen.
Gustl Mollath ist aufgrund eines Strafurteils des Landgerichts Nürnberg-Fürth aus dem Jahre 2006 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden. Eine solche Unterbringung setzt nach § 63 StGB voraus, dass die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Diese Prognose wurde aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens erstellt, dem weder eine Untersuchung von Herrn Mollath zugrunde lag noch ein ausführliches Explorationsgespräch. Der Sachverständige attestierte Mollath – nach Aktenlage – ein paranoides Gedankensystem. Als ein wesentliches Indiz hierfür wertete der Sachverständige den Umstand, dass Mollath wie es im Urteil wörtlich heißt „unkorrigierbar der Überzeugung sei, dass eine ganze Reihe von Personen aus dem Geschäftsfeld seiner früheren Frau, diese selbst und nunmehr auch beliebige weitere Personen die sich gegen ihn stellten (…) in dieses komplexe System der Schwarzgeldverschiebung verwickelt wären.“
Zwischenzeitlich hat sich allerdings herausgestellt, dass dieses komplexe System der Schwarzgeldverschiebung bei der HVB tatsächlich existierte, die Exfrau Mollaths darin verwickelt war und sich die tatsächlichen Angaben Mollaths hierzu auch als zutreffend erwiesen hatten. Das wird u.a. in einem internen Revisionsbericht der HVB bestätigt. Dies hätte die Staatsanwaltschaft bereits vor der Verurteilung Mollaths ermitteln können und müssen, zumal Mollath ganz konkrete Hinweise gegeben hatte.
Und genau diese Umstände werfen auch ein neues Licht auf die Tatsachenfeststellungen des Gerichts bzgl. der Taten die Mollath vorgeworfen wurden. Denn diese Taten beruhen wesentlich auf den Zeugenaussagen der früheren Ehefrau Mollaths, an deren Glaubwürdigkeit das Gericht keine Zweifel hatte und die nach Ansicht des Gerichts auch keinerlei Belastungseifer zeigte. Da die Ehefrau aufgrund der Aussagen und Angaben ihres Ehemanns über die Schwarzgeldgeschäfte mit einer eigenen Strafverfolgung rechnen musste, hatte sie natürlich ausreichend Grund ihren Exmann zu belasten. Diese Annahme wird durch eine eidesstattliche Versicherung eines Bekannten des Ehepaars Mollath aus dem Jahr 2011 bestärkt. Dieser Bekannte, der erst 2010 von der Unterbringung Mollaths erfahren hat, schildert mehrere Telefongespräche mit Herrn und Frau Mollath, in denen Frau Mollath u.a. ankündigt haben soll, ihren Mann fertig machen zu wollen und auf seinen Geisteszustand prüfen zu lassen, wenn er ihre Schwarzgeldgeschäfte anzeigt.
Was die Bejahung der Unterbringungsvoraussetzungen angeht, kann es durchaus sein, dass der Sachverständige seine Schlussfolgerungen nicht allein und noch nicht einmal überwiegend auf die Aussagen Mollaths zu den Schwargeldgeschäften gestützt hat. Andererseits muss die Frage erlaubt sein, was ein Gutachten noch Wert ist, wenn sich herausstellt, dass es zumindest in einem nicht unwesentlichen Punkt von einer vollständig falschen Grundannahme ausgeht.
Die misstrauische Grundhaltung Mollaths, die der Sachverständige zudem betont, erscheint mir, angesichts der Vorgeschichte, mehr als verständlich zu sein und spricht daher wohl eher gegen als für eine Störung.
Obwohl das Urteil also aufgrund der mittlerweile bekannten Fakten zweifelsfrei von falschen Annahmen getragen ist, beharren sowohl die bayerische Justizministerin als auch z.B. der Bayerische Richterverein auf der Richtigkeit des Urteils. Der Bayerische Richterverein greift Kritiker wie den Strafrechtsprofessor Henning-Ernst Müller in einer von Korpsgeist getragenen Heftigkeit an, die nur als befremdlich bezeichnet werden kann. Müller hatte, in durchaus überzeugenden Art und Weise, die bayerische Justiz kritisiert. Die eher formale Entgegnung des Richtervereins, auch der BGH habe die Entscheidung in der Revision bestätigt, ist fadenscheinig. Der BGH ist keine Tatsacheninstanz, weshalb er die tatsächlichen Feststellungen und Annahmen des Landgerichts zu keiner Zeit überprüft hat. Die Prüfung des BGH beschränkte sich vielmehr auf Rechtsfehler.
Bei der Annahme, der Fall Mollath sei ein politisch gesteuerter Justizskandal, mag es sich um eine Verschwörungstheorie handeln. Ob die Strafanzeige Mollaths gegen die Schwarzgeldgeschäfte bei der HVB tatsächlich auf Intervention eines Spitzenpolitikers von der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt worden ist, wie die Verfassungsbeschwerde Mollaths nahelegt, wird vermutlich auch nicht mehr aufgeklärt werden. Aber auch der Umstand, dass die Konzernspitze der HVB zumnindest von dem fraglichen Revisionsbericht wusste, bietet Anlass für Spekulationen.
Bemerkenswert und bedenklich ist zudem, dass die Fortdauer der Unterbringung u.a. mit der mangelnden Kranheits- und Behandlungseinsicht Mollaths begründet wird. Denn diese Begründung fußt letztlich auf einem Zirkelschluss. Angesichts der Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen gutachterlichen Feststellungen muss zumindest in Erwägung gezogen werden, dass die Störung des Geisteszustandes, die Mollath unterstellt wird, überhaupt nicht vorliegt. Wäre es dann nicht nachvollziehbar, wenn sich jemand, der gar keine psychische Erkrankung hat, auch nicht untersuchen und behandeln lassen will? Zumal durch Ärzte, die ihm nicht wirklich unvoreingenommen gegenübertreten.
Der Fall Mollath könnte in der Tat ein großer Justizskandal sein. Aber auch wenn man die Spekulationen beiseite lässt, legt er den Blick auf eine Justiz frei, die stur und starrsinnig an einer einmal getroffenen Entscheidungen festhält, obwohl offenkundig ist, dass ein Teil der Tatsachengrundlagen, auf die man sich anfangs gestützt hat, weggebrochen ist.
Wir müssen in diesem Fall von der durchaus naheliegenden Möglichkeit ausgehen, dass sich ein Mensch rechtstreu verhalten wollte, mit seinem Gewissen rang und genau deshalb, mit tatkräftiger Unterstützung der Justiz, seit Jahren in der Psychiatrie sitzt.