Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

22.12.23

Die gefühlte Meinungsfreiheit

Nach einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Rahmen des Freiheitsindex 2023 waren nur noch 40 Prozent der Befragten der Ansicht, dass man in Deutschland seine politische Meinung frei äußern könne. 44 Prozent der Befragten sind demgegenüber der Auffassung, dass sie mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein müssten. Hierüber berichtet aktuell auch ZEIT Online, die taz kommentiert.

Es steht also nicht gut um die gefühlte Meinungsfreiheit. Aber woraus resultiert dieses zunehmende Gefühl, seine Meinung nicht mehr frei äußern zu können und wie nah an der Wirklichkeit ist dieses Gefühl?

Für den vermeintlichen Verlust an Meinungsfreiheit wird wohl weniger der Staat unmittelbar verantwortlich gemacht, der allerdings nach dem Konzept des Grundgesetzes der eigentlich Grundrechtsverpflichtete ist, als eher ein gesellschaftliches Klima, das gerne mit Begriffen wie „Cancel Culture“ umschrieben wird.

Aber wie Johannes Schneider so treffend formulierte, ist es mit der Cancel Culture ein bisschen wie mit Haiattacken: Ihre mediale Resonanz übertrifft die reale Gefahr bei Weitem. Dafür, dass man angeblich seine Meinung nicht mehr frei äußern kann, sehen wir überall noch sehr viel Meinung, gerade in sozialen Netzwerken.

Das was viele als Beschränkung ihrer Meinungsfreiheit wahrnehmen, ist bei näherer Betrachtung nämlich gerade Ausdruck und Betätigung der Meinungsfreiheit.

Das Bundesverfassungsgericht umreißt die Meinungsfreiheit folgendermaßen:

  • Bei Beiträgen zur öffentlichen Meinungsbildung, spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede.
  • Die Meinungsfreiheit beschränkt sich nicht allein auf die Gewährleistung eines geistigen Meinungskampfs in öffentlichen Angelegenheiten und kann nicht auf ein rein funktionales Verständnis zur Förderung einer öffentlichen Debatte mit Gemeinbezug reduziert werden.
  • Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht.
  • Die Meinungsfreiheit ist als individuelles Freiheitsrecht folglich auch um ihrer Privatnützigkeit willen gewährleistet und umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen. 
  • Grundsätzlich unterliegen auch überspitzte, polemische und unsachliche Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung. Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein.
  • Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie sein persönliches Ansehen mindert.

Wer also seine Meinungsfreiheit dadurch eingeschränkt sieht, dass er in einer öffentlichen ausgetragenen Auseinandersetzung scharf attackiert wird, unterliegt einem Denkfehler. Derjenige, der ihn angreift, macht nämlich ebenfalls von seinem Recht auf Meinungsäußerung Gebrauch. Meinungsfreiheit ist nicht Widerspruchsfreiheit, sondern eher das Gegenteil. Meinungsfreiheit bedeutet eben auch, dem Anderen, auch in scharfer, polemischer und unsachlicher Form das sagen zu können, was er nicht hören will. Der Begriff des Meinungskampfs mag martialisch klingen, aber es kommt nicht von ungefähr, dass das Verfassungsgericht ihn regelmäßig verwendet.

Die Behauptung, man könne seine Meinung nicht mehr frei äußern, ist vor allen Dingen ein rechtes Narrativ, das wie viele andere Erzählungen aus dem rechten Spektrum mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft eindringen. Das passt zu Politikern, die in Trump-Manier von einer Bühne rufen, man müsse sich die Demokratie zurückholen. Das Gefühl von der schwindenden Meinungsfreiheit entspringt daher am Ende einer gefühlten Wirklichkeit, die mehr Schein als Sein ist.

Man muss andererseits zur Kenntnis nehmen, dass die gesellschaftliche Polarisierung zunimmt. Das schüchtert manche sicherlich ein, während andere immer lauter werden. Diejenigen, die den Verlust der Meinungsfreiheit beklagen, sind häufig diejenigen, die am lautesten sind. Sie beklagen den Verlust von etwas, von dem sie permanent Gebrauch machen.

Was wir aktuell erleben, ist ein Art von Kulturkampf, der von Rechts ausgeht, mit dem Ziel, die Deutungshoheit zu erlangen, um die Dinge umzudeuten, die Freiheit und die Freiheitsrechte am Ende in ihr Gegenteil zu verkehren. Und die Meinungsfreiheit stellt in einem liberalen Rechtsstaat das vielleicht bedeutendste Freiheitsrecht von allen dar.

Wir müssen uns also nicht die Demokratie zurückholen, denn sie ist noch da. Aber wir müssen das Grundgesetz gegen die verteidigen, die behaupten, sie wollten sich die Demokratie zurückholen.

posted by Thomas Stadler at 17:45