Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

30.8.15

Sachsen rechtsstaatsfrei?

Das Landratsamt Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hat am 27.08.2015 mittels einer sog. Allgemeinverfügung alle öffentlichen Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel im gesamten Stadtgebiet von Heidenau untersagt und zwar für den Zeitraum von 28.08.2015, 14:00 Uhr bis zum 31.08.2015, 06:00 Uhr. Das Versammlungsverbot wurde mit dem Vorliegen eines polizeilichen Notstands begründet. 

Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hat diesen Verwaltungsakt im Eilverfahren weitgehend nicht beanstandet, allerdings eine einzelne Versammlung zugelassen.

Erst das Bundesverfassungsgericht hat diesem Spuk gestern ein Ende gesetzt und die Allgemeinverfügung des Landratsamts vollständig außer Kraft gesetzt (Beschluss vom 29. August 2015 – 1 BvQ 32/15). Interessanterweise informiert das Landratsamt auf seiner Website zwar über sein Versammlungsverbot und die Entscheidung des OVG Bautzen, nicht aber über den Beschluss des BVerfG. Die tragenden Erwägungen der Verfassungsrichter sollten sich die Verantwortlichen des Landratsamts Pirna und die Richter des OVG Bautzen hinter die Ohren schreiben:

Vorliegend wöge das Verbot von Versammlungen im gesamten Gebiet der Stadt Heidenau für das anstehende Wochenende schwer. Aufgrund der Geschehnisse der jüngeren Zeit und der aktuellen Medienberichterstattung kommt der Stadt Heidenau für das derzeit politisch intensiv diskutierte Thema des Umgangs mit Flüchtlingen in Deutschland und Europa besondere Bedeutung zu. Das für viele Bürgerinnen und Bürger von Erwerbstätigkeit freie Wochenende ist oftmals die einzige Möglichkeit, sich am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung durch ein „Sich-Versammeln“ zu beteiligen und im Wortsinne „Stellung zu beziehen. Insoweit gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG das Recht, selbst zu bestimmen, wann und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll und ob man an dieser teilzunehmen gedenkt.

Demgegenüber ist eine gleichwertige Beeinträchtigung von der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen im Fall einer nach späterer Erkenntnis zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung nicht ersichtlich. Hinsichtlich der staatlich zu gewährleistenden Ausübung der Versammlungsfreiheit hat das Verwaltungsgericht einen polizeilichen Notstand nicht feststellen können. Gleiches gilt für das Oberverwaltungsgericht mit Blick auf die Veranstaltung des gestrigen Tages unter dem Motto „Dresden Nazifrei“. Dafür, dass auch unter Berücksichtigung von polizeilicher Unterstützung durch die anderen Länder und den Bund, deren Bereitstellung soweit ersichtlich nicht in Frage gestellt wird, jede Durchführung von Versammlungen in Heidenau für das ganz Wochenende zu einem nicht beherrschbaren Notstand führt, ist auch sonst substantiiert nichts erkennbar.

Versammlungsverbote sind in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ein Fremdkörper. Solange halbwegs funktionsfähige Polizei- und Sicherheitsbehörden existieren, wird ein sog. polizeilicher Notstand kaum jemals begründbar sein, erst recht nicht, wenn es um ein mehrtägiges Versammlungsverbot geht. Schließlich finden in Sachsen und bundesweit an jedem Wochenende hunderte von Veranstaltungen statt, bei denen die Polizei präsent ist, um die Sicherheit zu gewährleisten. Die Entscheidung des OVG Bautzen hat den Verwaltungsakt des Landratsamts schließlich ins Absurde hinein gesteigert, indem es eine einzelne Versammlung zuließ, das Verbot ansonsten aber nicht beanstandet hat. In Heidenau herrscht also offenbar lediglich ein partieller polizeilicher Notstand, der nach dem Gutdünken von Landratsämtern definiert wird.

Das offensichtlich rechtswidrige Versammlungsverbot und seine Billigung durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit erscheint bezeichnend für den Zustand von Verwaltung und Justiz in Sachsen. Die Leichtigkeit, mit der hier ein Grundrecht, das für das Funktionieren einer streitbaren, wehrhaften Demokratie essentiell ist, beiseite geschoben wird, offenbart ein erschreckendes rechtsstaatliches Defizit. Versammlungsverbote sind grundsätzlich Instrumente autoritärer Staaten. Unsere Verfassung hat sich aus gutem Grund dafür entschieden, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit einen überragend hohen Stellenwert einzuräumen, weil die Väter des Grundgesetzes wussten, dass diese Grundrechte sine qua non für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung sind. Das ist auch eine Lehre aus der Weimarer Zeit, in der die Verfassung immer wieder, gestützt auf angebliche Notstandssituationen, (teilweise) außer Kraft gesetzt worden ist.

In Sachsen herrscht kein polizeilicher Notstand, es herrscht ein Verfassungsnotstand, wenn Verwaltungsbehörden und Gerichte dem Grundgesetz die Gefolgschaft verweigern.

Es ist deshalb sicher auch kein Zufall, dass der Nährboden für rechtsradikale und rechtsterroristische Umtriebe in Sachsen besonders groß ist.

posted by Stadler at 20:55  

8.8.14

BVerfG: Versammlungsfreiheit auf einem Friedhof

Die Stadt Dresden hatte eine Gedenkveranstaltung auf dem Gelände des Dresdner Heidefriedhofs, einem kommunalen Friedhof abgehalten. Die Veranstaltung diente der Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges sowie der Opfer des Alliierten Bombenangriffs auf Dresden am 13. Februar 1945. Gegendemonstranten hatten sich hierzu ebenfalls eingefunden und ein Transparent mit dem Schriftzug: „Es gibt nichts zu trauern – nur zu verhindern. Nie wieder Volksgemeinschaft – destroy the spirit of Dresden. Den Deutschen Gedenkzirkus beenden. Antifaschistische Aktion“ ausgerollt.

Hiergegen hat die Stadt eine Geldbuße von 150 EUR wegen Verstoßes gegen die Frieddhofssatzung verhängt, die vom Amtsgericht Dresden bestätigt wurde.

Zu Unrecht, wie das Bundesverfassungsgericht nunmehr entschieden hat. Denn auch auf einem städtischen Friedhof gilt die Versammlungsfreiheit, sofern dort im konkreten Zeitpunkt ein kommunikativer Verkehr eröffnet war, was die Stadt Dresden durch ihre Gedenkveranstaltung getan hat. In dem Beschluss vom 20.06.2014 (Az.: 1 BvR 980/13) heißt es dazu:

Die Zusammenkunft auf dem Heidefriedhof und das Entrollen des Transparents fallen unter den Schutz der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.

a) Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung und umfasst auch provokative Äußerungen (vgl. BVerfGE 69, 315 <342 f.>; 104, 92 <104>; BVerfGK 11, 102 <108>). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen (vgl. BVerfGE 73, 206 <248>; 87, 399 <406>; 104, 92 <103 f.>). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>).

Die Versammlungsfreiheit verschafft damit allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten (vgl. BVerfGE 128, 226 <251>). Insbesondere gewährt sie keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird (vgl. BVerfGE 128, 226 <251>). Die Versammlungsfreiheit verbürgt die Durchführungen von Versammlungen jedoch dort, wo ein kommunikativer Verkehr eröffnet ist; ausschlaggebend ist die tatsächliche Bereitstellung des Ortes und ob nach diesen Umständen ein allgemeines öffentliches Forum eröffnet ist (vgl. BVerfGE 128, 226 <251 ff.>).

Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <351>; BVerfGK 4, 154 <158>; 11, 102 <108>). Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (vgl. BVerfGE 73, 206 <250>).

Nach diesen Kriterien handelte es sich bei der Zusammenkunft, an welcher der Beschwerdeführer teilgenommen hat, um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Die Zusammenkunft hatte den Zweck, gegen das Gedenken Stellung zu nehmen und mit einem Transparent gemeinsam Position gegen die Gedenkveranstaltung zu beziehen; hierbei handelte es sich um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung.

posted by Stadler at 14:25  

6.8.14

„Zivile Bullen raus aus der Versammlung“

Für eine Demonstration des DGB in München hatte das Kreisverwaltungsreferat die Auflage erlassen, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen.  Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: „Bullen raus aus der Versammlung!“ und „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“. Das Amtsgericht München hat die Beschwereführerin deshalb wegen Verstoß gegen das Versammlungsgestz zur Zahlung einer Geldbuße von 250 EUR verurteilt. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 26.06.2014 (Az.: 1 BvR 2135/09) aufgehoben. In der Begründung heißt es dazu u.a.:

Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet. Die Beschwerdeführerin war unstreitig Teilnehmerin einer auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung und damit einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>). Vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit grundsätzlich umfasst war damit auch die Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel (vgl. BVerfGK 11, 102 <108>). Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen standen auch inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der Versammlung. Mögen sie auch keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein, so gaben sie jedenfalls das versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem auf den Willensbildungsprozess gerichteten Aufzug selbst nur solche Personen befinden sollen, die am Willensbildungsprozess auch teilnehmen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess unbeteiligte Polizisten, die als solche nicht erkennbar sind. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>). Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen. Insoweit ist die entsprechende Lautsprecheraussage nicht – wie das Amtsgericht annimmt – dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen.

(…)

Indem die amtsgerichtliche Entscheidung die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einer Geldbuße in der Sache allein darauf stützte, dass sie die Lautsprecheranlage zu einem anderen Zweck als zu einer im engen Sinne themenbezogenen Durchsage oder Ordnungsmaßnahme nutzte, verkennt sie den Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG, der – wie dargelegt – jedenfalls grundsätzlich auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt. Insoweit konnte sich das Gericht auch nicht uneingeschränkt auf die entsprechende Auflage berufen. Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit Versammlungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berücksichtigung des Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der Lautsprecheranlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die Lautsprecherdurchsagen der Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Der bloße Aufruf „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“ mag bei lebensnaher Betrachtung kurzfristige Irritationen von Versammlungsteilnehmern hervorrufen, war aber ersichtlich nicht zur Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Versammlung geeignet. Insbesondere wurden Zivilpolizisten nicht konkret und in denunzierender Weise benannt und so etwa in die Gefahr gewalttätiger Übergriffe aus der Versammlung gebracht. Auch eine mögliche Beeinträchtigung der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld rechtfertigten.

posted by Stadler at 10:37  

11.3.13

DAV: Geplantes Berliner Gesetz zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen ist verfassungswidrig

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat sich in einer Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes des Berliner Abgeordnetenhauses über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen geäußert.

Die Einschätzung des Fachausschusses Gefahrenabwehr des DAV ist eindeutig. Es liegt ein Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit vor, der schon nicht geeignet ist, die öffentliche Sicherheit zu stärken. Auch die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wird vom DAV bezweifelt.

Letztlich halte ich gerade auch folgende Erwägungen des DAV für überzeugend und durchgreifend:

Zudem steht zu befürchten, dass das nun vorliegende Gesetz Ausgangspunkt für die Etablierung weiterer Eingriffsbefugnisse der Polizei in Zusammenhang mit Videoüberwachung bei Versammlungen sein wird. Das BVerfG hat zwar in seiner Eilentscheidung zum ersten Entwurf des Bayrischen Versammlungsgesetzes ausdrücklich ausgeführt, dass die Aufzeichnung von Übersichtsaufnahmen nur bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefahr für öffentliche Sicherheit und Ordnung zulässig sei. Wenn aber entsprechend dem Berliner Entwurf laufend ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr derartige Übersichtsaufnahmen angefertigt werden, liegt es aus polizeilicher Perspektive nahe, vorläufige Aufzeichnungen vorzunehmen, um sodann nach der Versammlung über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Speicherung nach § 12a VersG zu entscheiden. Das würde im Ergebnis dann eine umfassende, anlasslose Videoüberwachung von Versammlungen bedeuten.

Nicht hinreichend beachtet hat man in Berlin auch die Vorgaben des BVerfG. Danach stellt die Anfertigung solcher Übersichtsaufzeichnungen nach dem heutigen Stand der Technik für die Aufgezeichneten immer einen Grundrechtseingriff dar, weil auch in Übersichtsaufzeichnungen die Einzelpersonen in der Regel individualisierbar mit erfasst sind. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufzeichnungen und personenbezogenen Aufzeichnungen besteht nach der Rechtsprechung des BVerfG wegen des Stands der heutigen Technik deshalb nicht mehr.

Letztlich ist das Gesetz zur Anfertigung von Übersichtsaufnahmen gleichzeitig auch ein Gesetz zum Filmen einzelner Demonstrationsteilnehmer. Genau das ist aber, jedenfalls zum Zweck der „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ nicht mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit vereinbar.

posted by Stadler at 21:48  

1.12.11

Deutscher Polizeigewahrsam verstößt gegen Menschenrechtskonvention

Mit Urteil vom 01.12.2011 (Az.: 8080/08 und 8577/08) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Festnahme mehrerer Personen im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm zum Zwecke des sog. Polizeigewahrsams als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention beanstandet.

Der Polizeigewahrsam ist eine präventive Maßnahme nach den Polizeigesetzen der Länder. Im konkreten Fall wurden mehrere Personen auf Grundlage von § 55 des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes von Mecklenburg-Vorpommern (SOG M-V) in Gewahrsam genommen, vermeintlich um zu verhindern, dass diese Personen an gewalttätigen Demonstrationen teilnehmen und Straftaten begehen. Im konkreten Fall bestand der einzige Grund für die Festnahme wohl darin, dass man bei den Betroffenen in einem Fahrzeug Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners” and “free all now“ – laut dem englischsprachigen Urteilstext – gefunden hatte.

Der EGMR hat in der Festnahme und Freiheitsentziehung einen Verstoß gegen Art. 5 § 1 (Freiheit der Person) und Art. 11 (Versammlungsfreiheit) der Menschenrechtskonvention gesehen. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass keine ausreichenden Hinweise dafür vorlagen, dass die Betroffenen gewaltsame Auseinandersetzungen unterstützen wollten. Die Transparente sah der EGMR als legitime Meinungsäußerung im Rahmen einer von der MRK geschützten Versammlung an.

Die Frage, ob bereits das deutsche Polizeirecht gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, hat der EGMR ausdrücklich offen gelassen.

Entgegen der Ansicht des Verfassungsblogs glaube ic nicht unbedingt, dass der EGMR damit den deutschen Polizeigewahrsam generell in Frage stellt. Denn auch mit einer weniger großzügigen Auslegung von § 55 SOG M-V hätte man hier ohne weiteres zu einem anderen Ergebnis gelangen können. Dass das Mitführen von Transparenten in dem die Freilassung von Gefangenen gefordert wird, bereits den Aufruf zu einer Straftat beinhaltet, ist nämlich eine sicherlich diskutable These. Allerdings könnte das Urteil durchaus Anlass zu der Fragestellung geben, ob die Vorschriften in den Polizeigesetzen der Länder nicht enger gefasst werden müssen.

Das Urteil ist aber auch eine (erneute) Ohrfeige für das BVerfG, das Verfassungsbeschwerden der Betroffenen offenbar nicht zur Entscheidung angenommen hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sendet erneut ein starkes Signal zur Stärkung der Freiheitsrechte aus.

posted by Stadler at 17:19  

19.6.11

Funkzellenüberwachung bei Demonstration

Die taz berichtet über einen rechtsstaatlich bedenklichen Fall einer sog. Funkzellenüberwachung während einer Demonstration in Dresden am 19.02.2011.

Hierbei wurden offenbar in großem Umfang Mobilfunkverbindungsdaten von Demonstranten, Anwohnern, und Passanten erfasst. Über einen Zeitraum von viereinhalb Stunden sollen laut taz die Verbindungsdaten sämtlicher Anrufe und SMS-Nachrichten von allen Personen, die sich in der Südvorstadt von Dresden aufgehalten haben, erfasst worden sein.

Die Funkzellenüberwachung wurde nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Dresden angeblich aufgrund von Ermittlungen wegen eines Angriffs auf Polizeibeamte, also zu Zwecken der Strafverfolgung, angeordnet.

Diese Anordnung dürfte bereits deshalb problematisch sein, weil sie faktisch zu einer TK-Überwachung der Teilnehmer einer Versammlung geführt hat. In dieser Konstellation ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen präventiv-polizeilichen Maßnahmen im Umfeld einer Demonstration und der Strafverfolgung.

Wegen der Bedeutung der Versammlungsfreiheit sind präventive Maßnahmen der Polizei ohne Vorliegen einer konkreten Gefahrensituation bei Demonstrationen grundsätzlich nicht zulässig. Der Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts verbietet beispielsweise das generelle Filmen des Demonstrationsgeschehens und erst Recht Maßnahmen der TK-Überwachung. Sollte also die Strafverfolgung auch dazu dienen, die Teilnehmer der Versammlung zu überwachen, dann wäre die Maßnahme allein deshalb rechtswidrig.

Aber selbst wenn man unterstellt, es sei ausschließlich um eine Strafverfolgung gegangen, dürften die gesetzlichen Voraussetzungen des § 100h Abs. 1 Nr. 2 StPO, der diese sog. Funkzellenüberwachung ermöglicht, kaum erfüllt sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist allein deshalb nicht gewahrt, weil die Maßnahme erkennbar dazu führt, dass tausende von Versammlungsteilnehmern erfasst werden. Daneben müsste es sich auch um eine Straftat von erheblicher Bedeutung gehandelt haben und die Ermittlung der Täter müsste ohne die Maßnahme wesentlich erschwert sein.

Die Funkzellenüberwachung ist eine Maßnahme, die regelmäßig die Rechte einer größeren Anzahl Unbeteiligter beeinträchtigt, weshalb sie eine besonders sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert. Diese Anforderungen sind im konkreten Fall zusätzlich dadurch erhöht, dass die Maßnahme im Umfeld einer Versammlung erfolgt.

Vor diesem Hintergrund ist die Maßnahme mit großer Wahrscheinlichkeit rechtswidrig.

posted by Stadler at 22:17  

23.2.11

BVerfG: Im öffentlichen Raum darf demonstriert werden

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 22. Februar 2011 (Az.: 1 BvR 699/06), das gestern veröffentlicht wurde, entschieden, dass die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) auch auf dem Gelände des Flughafens Frankfurt gilt und dort deshalb grundsätzlich auch demonstriert werden darf.

Wenig überraschend ist die Entscheidung insoweit, als das BVerfG davon ausgeht, dass die Fraport AG unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist, weil die Aktienmehrheit bei der öffentlichen Hand liegt. Der Staat hat nämlich nicht die Möglichkeit, sich seiner Grundrechtsbindung dadurch zu entziehen, dass er eine privatrechtliche Gesellschaftsform, also z.B. die einer Aktiengesellschaft, wählt. Diese „Flucht ins Privatrecht“ führt nicht dazu, dass die Bindung an die Grundrechte entfällt.

Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob auf dem Gelände einer solchen AG beliebig demonstriert werden darf. Insoweit geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Versammlungsfreiheit noch kein allgemeines Zutrittsrecht zu beliebigen  Orten verschafft. Versammlungen können nicht ohne Weiteres auf frei gewählten Privatgrundstücken durchgeführt werden. Allerdings ist die Versammlungsfreiheit andererseits auch nicht auf den öffentlichen Straßenraum begrenzt, wie das Gericht betont. Die Durchführung von Versammlungen ist vielmehr auch an anderen Orten zulässig, an denen ein öffentliches Unternehmen einen allgemeinen öffentlichen Verkehr eröffnet hat und damit für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind.

posted by Stadler at 10:50  

29.11.10

Polizei darf friedliche Demonstration nicht filmen

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat mit Beschluss vom 23.11.2010 (Az.: 5 A 2288/09) ein Urteil des Verwaltungsgerichts Münster bestätigt, wonach die Polizei bei Versammlungen nicht anlassunabhängig filmen darf.

Das OVG bestätigt eigentlich nur eine juristische Selbstverständlichkeit, nämlich, dass Bild- und Tonaufnahmen von Demonstrationsteilnehmern nur angefertigt werden dürfen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit ausgehen. Man nennt das auch Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts. Die Behörden wollten das aber offenbar nicht einsehen und haben Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingelegt und haben sich auch beim OVG eine Abfuhr geholt.

posted by Stadler at 20:47  

24.11.10

Versammlungsfreiheit auch auf Flughäfen?

Berechtigen die Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit auch dazu, in einem Flughafen Flugblätter zu verteilen? Über diese Frage hat gestern das Bundesverfassungsgericht verhandelt.

Sechs Mitglieder einer „Initiative gegen Abschiebungen“ hatten an einem Abfertigungsschalter des Frankfurter Flughafens Flugblätter verteilt. Der Flughafenbetreiber Fraport  erteilte den Aktivisten darauf hin Hausverbot. Die hiergegen gerichteten Klagen vor den Zivilgerichten blieben erfolglos. Einer der Aktivisten erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde.

Von entscheidender Bedeutung könnte sein, dass die Fraport AG zwar eine zivilrechtliche Gesellschaftsform aufweist, Mehrheitsgesellschafter allerdings die öffentlichen Hand ist. Der grundrechtsverpflichtete Staat kann sich nämlich seiner Grundrechtsbindung nicht ohne weiteres durch eine „Flucht ins Privatrecht“ entziehen.

Möglicherweise wird man aber grundsätzlich zu dem Ergebnis gelangen, dass in einem öffentlich zugänglichen Raum immer ein gewisses Maß an Meinungskundgabe zulässig sein muss. Prozessbeobachter wollen erkannt haben, dass der Senat dazu neigt, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben.

posted by Stadler at 08:23  

16.11.10

Aufklärungsdrohne und Versammlungsfreiheit

Die Polizei hat zur Überwachung der Demonstrationen gegen den Castor Transport eine sog. Überwachungsdrohne eingesetzt. Das ist nicht nur mit Blick auf das Persönlichkeitsrecht der Demonstranten problematisch, wie andernorts geschrieben wird, sondern insbesondere ein Verstoß gegen den Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts, der seinen einfachgesetzlichen Niederschlag in § 12a VersammlG findet. Das gilt zumindest dann, wenn es sich um eine planmäßige Überwachung des Demonstrationsgeschehens handelt und keine konkrete Gefahrenlage gegeben ist. Die Vorschriften des Bundesversammlungsgesetzes gelten derzeit in Niedersachsen noch, nachdem das neue Landesversammlungsgesetz noch nicht in Kraft getreten ist.

posted by Stadler at 21:28  
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