Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

21.12.16

War es das auch für die deutsche Vorratsdatenspeicherung?

Der EuGH hat mit Urteil vom heutigen 21.12.2016 (C?203/15) die britische und die schwedische Regelung über die Vorratsdatenspeicherung als mit dem Unionsrecht nicht vereinbar erklärt.

Der EuGH stellt zunächst fest, dass nationale Regelungen über eine Vorratsdatenspeicherung in den Anwendungsbereich der Datenschutzrichtlinie fallen.

Für zentral, gerade auch mit Blick auf die aktuelle deutsche Regelung halte ich folgende Passagen des Urteils:

Zum anderen sieht eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren, die sich allgemein auf alle Teilnehmer und registrierten Nutzer erstreckt und alle elektronischen Kommunikationsmittel sowie sämtliche Verkehrsdaten erfasst, keine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme in Abhängigkeit von dem verfolgten Ziel vor. Sie betrifft pauschal sämtliche Personen, die elektronische Kommunikationsdienste nutzen, ohne dass sich diese Personen auch nur mittelbar in einer Lage befinden, die Anlass zur Strafverfolgung geben könnte. Sie gilt also auch für Personen, bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit schweren Straftaten stehen könnte. Zudem sieht sie keine Ausnahme vor, so dass sie auch für Personen gilt, deren Kommunikationsvorgänge nach den nationalen Rechtsvorschriften dem Berufsgeheimnis unterliegen (vgl. entsprechend, zur Richtlinie 2006/24, Urteil Digital Rights, Rn. 57 und 58). (Rn. 105).

 Bei der Begrenzung einer solchen Maßnahme im Hinblick auf die potenziell betroffenen Personenkreise und Situationen muss sich die nationale Regelung auf objektive Anknüpfungspunkte stützen, die es ermöglichen, Personenkreise zu erfassen, deren Daten geeignet sind, einen zumindest mittelbaren Zusammenhang mit schweren Straftaten sichtbar zu machen, auf irgendeine Weise zur Bekämpfung schwerer Kriminalität beizutragen oder eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu verhindern. Eine solche Begrenzung lässt sich durch ein geografisches Kriterium gewährleisten, wenn die zuständigen nationalen Behörden aufgrund objektiver Anhaltspunkte annehmen, dass in einem oder mehreren geografischen Gebieten ein erhöhtes Risiko besteht, dass solche Taten vorbereitet oder begangen werden (Rn. 111).

Das bedeutet an sich, dass eine pauschale und komplett anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht in Betracht kommt. Vielmehr muss der Gesetzgeber einen konkreten Anknüpfungspunkt dafür definieren, dass durch die Maßnahme eine konkrete Straftat aufgeklärt werden könnte oder eine konkrete Gefahr beseitigt werden kann. Das klingt ein bisschen nach dem, was man in Deutschland unter dem Begriff Quick Freeze diskutiert hat.

Damit dürfte auch die aktuelle deutsche Regelung nicht den Vorgaben des EuGH genügen. Man wird abwarten müssen, wie das BVerfG diese neue Rechtsprechung umsetzt und ob es an den EuGH vorlegen wird.

posted by Stadler at 16:25  

20.12.16

E-Mail eines besorgten Bürgers

Letzte Nacht habe ich eine E-Mail eines besorgten Bürgers mit folgendem Wortlaut erhalten:

Du Ratte kotzt mich richtig derbe an. Subjekte wie Du sind schuld an Berlin und Freiburg und Hamburg und Co. Ich hoffe es trifft dich bald oder irgendein Mitglied deiner Sippe.

Nicht, dass mich das sonderlich beunruhigen würde. Aber es zeigt, auf welche Art und Weise man mittlerweile verbal attackiert und bedroht wird, wenn man als Blogger oder auf Twitter zur Flüchtlingsdebatte oder gegen Rechts Stellung bezieht. Vielleicht sollte ich noch mehr zu diesen Themen schreiben, denn wir müssen die Hater da draußen wissen lassen, dass sie nicht das Volk sind. Wäre mir die Identität dieses Menschen bekannt, würde ich ihm zu Weihnachten vielleicht „Gegen den Hass“ von Carolin Emcke schicken. Denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

posted by Stadler at 08:50  

15.12.16

War #KeinGeldFürRechts ein unzulässiger Boykottaufruf?

Seit einer Woche tobt eine kontroverse Diskussion über die Aktion #KeinGeldFürRechts mit der Gerald Hensel, bislang Mitarbeiter der Werbeagentur Scholz & Friends, Werbetreibende dazu aufgerufen hat, zu überprüfen, ob sie auf bestimmten rechten Websites/Portalen Werbung geschaltet haben und ob das wirklich im Sinne ihres Unternehmens ist. Was folgte, war ein veritabler Shitstorm gegen Hensel sowie seinen Arbeitgeber Scholz & Friends. Gerald Hensel fühlt sich angegriffen und hat gegenüber dem Stern erklärt, er habe sich aus Sicherheitsgründen in ein Hotel zurückgezogen und werde das Arbeitsverhältnis mit Scholz & Friends beenden. Das ist nicht wirklich verwunderlich, wenn man die Reaktionen betrachtet. Der rechte Wirrkopf Henryk M. Broder, dem leider immer wieder auch große, etablierte Medien eine Plattform bieten, hat Hensel in seiner gewohnt hetzerischen Diktion zunächst in die Nähe der SA gerückt, um ihn sodann als Kultur-Stalinisten zu beschimpfen.

Nachdem sich auf Twitter auch eine juristische Diskussion darüber entwickelte, ob die Aktion Hensels einen rechtlich unzulässigen und wettbewerbswidrigen Boykottaufruf beinhaltet, möchte ich mich mit dieser juristischen Fragestellung hier näher befassen.

Fraglich ist bereits, ob zwischen Gerald Hensel, auch wenn er Mitarbeiter einer bekannten Werbeagentur ist, und einem publizistischen Blog wie „Achse des Guten“ ein Wettbewerbsverhältnis besteht und Hensel als Mitbewerber zu betrachten ist. Bereits das dürfte äußerst zweifehlaft sein, wobei dann immer noch ein unzulässiger Boykottaufruf nach allgemeinen, deliktsrechtlichen Vorschriften im Raum stehen könnte.

Die nächste Frage ist die, ob überhaupt schon die Schwelle zu einem Boykottaufruf überschritten ist. Denn ein solcher Aufruf erfordert ein Maß an Einflussnahme, das über die bloße Information oder unverbindliche Anregung hinausgeht. Man könnte hier zwar argumentieren, dass der Slogan bzw. Hashtag „Kein Geld für Rechts“ deutlichen Appellcharakter hat. Andererseits hat Hensel gegenüber Werbetreibenden nur angeregt, sich anzuschauen, ob sie aufgrund automatisch gebuchter Werbung eventuell auch auf Seiten zu finden sind, auf denen sie nicht gefunden werden wollen. Man kann also auch bezweifeln, ob die Schwelle zum Boykottaufruf tatsächlich bereits überschritten ist.

Aber selbst wenn man das unterstellt, ist nicht jedweder Boykottaufruf unzulässig, auch nicht nach den Maßstäben des UWG. Auch im Bereich des Wettbewerbsrechts ist in solchen Fällen eine umfassende Güterabwägung unter Berüsichtigung der grundrechtlichen Wertungen, insbesondere der Meinungsfreiheit des Art. 5 GG vorzunehmen. Wesentlich sind hierbei auch die Motive und Ziele des Boykottaufrufs. Wenn es sich um eine Angelegenheit von öffentlicher Bedeutung handelt und die eigenen wirtschaftlichen Interessen nicht im Vordergrund stehen, sondern die Sorge um politische oder gesellschaftliche Belange, so spricht dies für die Zulässigkeit des Aufrufs (vgl. Köhler, in Köhler/Bornkamm, UWG, § 4, Rn. 4.123). Ein Aufruf, der sich gegen publizistische Plattformen richtet, die man in einem bestimmten weltanschaulichen, politischen Kontext verortet, ist in jedem Fall von allgemeiner, öffentlicher Relevanz. Hinzu kommt, dass Hensel keinen Druck ausgeübt hat, sondern sich auf die Mittel der geistigen Einflussnahme beschränkt. Auch das spricht für die Zulässigkeit.

Wenn man die Aktion von Gerald Hensel also überhaupt als Boykottaufruf bewerten will, spricht nach meiner rechtlichen Bewertung vieles dafür, dass sie juristisch nicht zu beanstanden ist.

Ich möchte an dieser Stelle aber auch nicht verschweigen, dass ich große Sympathie für die mutige Aktion von Gerald Hensel hege und der zum Teil wütenden Reaktion wenig abgewinnen kann.

posted by Stadler at 16:44  

13.12.16

Es ist (wieder) riskant, Links zu setzen

In den letzten Tagen wurde eine aktuelle Entscheidung des Landgerichts Hamburg (Beschluss vom 18.11.2016, Az.: 310 O 402/16) heftig diskutiert, die es einem Webseitenbetreiber verboten hatte, auf eine andere Website, die ein urheberrechtlich geschütztes Bild enthielt zu verlinken. Auch wenn das Landgericht Hamburg im Rahmen einer Einzelfallabwägung u.U. auch anders hätte entscheiden können, war die Linie bereits durch ein Urteil des EuGH – das ich hier im Blog kritisch besprochen hatte – vorgegeben.

Der Europäische Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass das Setzen von Hyperlinks auf Websites die geschützte Werke enthalten, die ohne Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers frei zugänglich sind, dann eine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne des Urheberrechts darstellt, wenn der Link mit Gewinnerzielungsabsicht bereitgestellt wurde. Wer Hyperlinks in Gewinnerzielungsabsicht setzt, muss sich demnach also vergewissern, dass das betroffene Werk auf der Website, zu der die Hyperlinks führen, nicht unbefugt veröffentlicht wurde, so der EuGH.

Das Grundproblem resultiert letztlich aus einer nicht nachvollziehbaren Differenzierung des EuGH. Der Gerichtshof geht davon aus, dass ein Link auf Inhalte, die mit Zustimmung des urheberrechtlich Berechtigten im Netz stehen, schon gar keine urheberrechtlich relevante Handlung darstellt, während Links auf Inhalte die urheberrechtswidrig online sind, eine öffentliche Wiedergabe darstellen sollen, wenn schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) verlinkt wird oder der Setzer des Links in Gewinnerzielungsabsicht handelt. Die in objektiver Hinsicht identische Handlung (Setzen eines Links) wird also, abhängig von subjektiven Umständen, einmal als unbeachtlich betrachtet und ein anderes Mal als relevante Nutzungshandlung.

Aus meiner Sicht wäre folgende juristische Betrachtung angebracht: Ausgangspunkt sollte die Prämisse eines Tim-Berners Lee sein, dass das Setzen eines Hyperlinks, auch vor dem Hintergrund der Kontsruktion des WWW, für sich genommen nichts besagt und nur einen Verweis auf eine externe Quelle beinhaltet. Anschließend wäre festzustellen, dass die originäre und relevante Rechtsverletzung dort stattfindet, wo das geschützte Werke widerrechtlich ins Netz gestellt wurde. Der Link steht und fällt mit dieser fremden Rechtsverletzung. Verschwindet das Werk an seiner Quelle, läuft der Link hierauf ins Leere. Derjenige der einen Link setzt, kann natürlich im Sinne einer Beihilfe oder Mittäterschaft diese fremde Rechtsverletzung unterstützen. Der Link auf Inhalte, die bereits frei zugänglich online sind, beinhaltet allerdings keine (erneute) öffentliche Zugänglichmachung/Wiedergabe im Sinne des Urheberrechts und damit keine eigenständige Nutzungshandlung des Linkenden. Es ist also anhand des Linkkontexts im Einzelfall zu prüfen, ob derjenige der den Link setzt, die fremde Urheberrechtsverletztung unterstützt und unterstützen will. Hierbei ist es aus meiner Sicht allerdings gänzlich unerheblich, ob der Link in Gewinnerzielungsabsicht erfolgt oder nicht. Das Urheberrecht ist kein gewerbliches Schutzrecht, so dass ein Handeln im geschäftlichen Verkehr, anders als bei gewerblichen Schutzrechten wie Marken, gerade keine Voraussetzung einer Rechtsverletzung ist.

Alle Portale, Blogs, Webseiten, die in Gewinnerzeilungsabsicht betrieben werden, haften danach, wenn sie auf Fremdinhalte verlinken, die Urheberrechte verletzten. Das Problem ist der EuGH, der das Internet nicht verstanden und zudem eine Entscheidung getroffen hat, die auch in rechtsdogmatischer Hinsicht schwer nachvollziehbar ist. Wir werden abwarten müssen, was andere nationale Gerichte aus der Vorgabe machen und ob der EuGH demnächst die Möglichkeit wahrnimmt, seine Entscheidung abzuschwächen. Die deutschen Gerichte haben aber vorerst wohl nur bei der Frage der Gewinnerzeilungsabsicht Spielraum. Man kann also nur die Frage stellen, ob der Hyperlink unmittelbar in Gewinnerzielungsabsicht gesetzt werden muss oder ob es reicht, dass das verlinkende Angebot als solches in Gewinnerzielungsabsicht betrieben wird.

posted by Stadler at 09:41  

8.12.16

BGH zum Umfang zulässiger Kritik an journalistischer Arbeit

In einer lesenswerten aktuellen Entscheidung nimmt der Bundesgerichtshof zur Abgrenzung zwischen Verdachtsberichterstattung (Tatsachenbehauptung) und Meinungsäußerung (Werturteil) Stellung, sowie zum Umfang zulässiger Kritik an journalistischer Arbeit (Urteil vom 27.09.2016, Az.: VI ZR 250/13).

Schlussfolgerungen aus unstreitigen Tatsachen betrachtet der BGH als Werturteil und nicht als Tatsachenbehauptung. Hierzu führt er im konkreten Fall aus:

Die Auffassung des Berufungsgerichts, durch die Äußerung „[e]rst streitet M. mit Z. um Geld, dann dreht M.‘s guter Bekannter einen kritischen Bericht über das Unternehmen? Die ?Frontal 21?-Macher halten das ebenfalls für puren Zufall“ werde in Bezug auf die Motivation des Klägers in unzulässiger Weise der Verdacht geäußert, der Kläger habe den Bericht als Reaktion auf die unterbliebene Bezahlung des M. verfasst, erweist sich als rechtsfehlerhaft. Es handelt sich nicht um einen Fall der Verdachtsberichterstattung. Der Autor stellt mögliche Schlussfolgerungen auf der Grundlage unstreitiger Tatsachen in den Raum. Darin liegt ein hinzunehmendes Werturteil.

Bereits unzählige Male hat der BGH einen der wesentlichen Grundsätze des Äußerungsrechts wiederholt, so auch in dieser Entscheidung:

Zur Erfassung des vollständigen Aussagegehalts muss die beanstandete Äußerung stets in dem Gesamtzusammenhang beurteilt werden, in dem sie gefallen ist. Sie darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden (st. Rspr., Senatsurteile vom 12. April 2016 – VI ZR 505/14, VersR 2016, 938 Rn. 11; vom 27. Mai 2014 – VI ZR 153/13, AfP 2014, 449 Rn. 13; vom 14. Mai 2013 – VI ZR 269/12, BGHZ 197, 213 Rn. 14; vom 18. November 2014 – VI ZR 76/14, BGHZ 203, 239 Rn. 19; vom 22. November 2005 – VI ZR 204/04, AfP 2006, 65, 66 jeweils mwN).

Leider wird das immer noch und immer wieder falsch gemacht. Anschließend befasst sich der BGH damit, inwieweit die Form einer Frage eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil darstellt und unterscheidet hierbei zwischen echten (offenen) Fragen und rhetorischen Fragen:

Nach den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 85, 23, 31) entwickelten Grundsätzen zur Beurteilung von Äußerungen, die in Frageform gekleidet sind, unterscheiden sich Fragen von Werturteilen und Tatsachenbehauptungen dadurch, dass sie keine Aussage machen, sondern eine Aussage herbeiführen wollen. Sie sind auf eine Antwort gerichtet. Diese kann in einem Werturteil oder einer Tatsachenmitteilung bestehen.

Ist ein Fragesatz nicht auf eine Antwort durch einen Dritten gerichtet oder nicht für verschiedene Antworten offen, so handelt es sich ungeachtet der geläufigen Bezeichnung als „rhetorische Frage“ tatsächlich nicht um eine Frage. Fragesätze oder Teile davon, die nicht zur Herbeiführung einer inhaltlich noch nicht feststehenden Antwort geäußert werden, bilden vielmehr Aussagen, die sich entweder als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung darstellen und rechtlich wie solche zu behandeln sind (vgl. Senatsurteil vom 9. Dezember 2003 – VI ZR 38/03, NJW 2004, 1034, 1035). Rhetorische Fragen sind nur scheinbare Fragen. Echte Fragen stehen unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit Werturteilen gleich (BVerfGE 85, 23, 32). Die Unterscheidung zwischen echten und rhetorischen Fragen muss mit Hilfe von Kontext und Umständen der Äußerung erfolgen (Senatsurteil vom 9. Dezember 2003 – VI ZR 38/03, NJW 2004, 1034, 1035).

(…)

Um eine Meinungsäußerung – in Form eines Werturteils – handelt es sich aber auch dann, wenn man nicht von einer offenen Frage ausgeht, sondern den Aussagegehalt darin sieht, dass der Autor dem Leser die Antwort nahebringen will, dass zwischen dem Streit des M. mit Z. um Geld und der kritischen Repor-tage des Klägers mehr als nur ein zeitlicher Zusammenhang besteht.

Journalisten müssen sich nach Ansicht des BGH, ähnlich wie Gewerbetreibende auch scharfe Kritik gefallen lassen. Die Grenze ist erst dort erreicht, wo schwerwiegende Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht wie Stigmatisierung oder eine Prangerwirkung drohen. Außerdem muss der Journalist als „Wachhund der Öffentlichkeit“ selbst in verstärktem Maße eine kritischen Berichterstattung dulden, weil etwaige Missstände bei den „Wächtern“ Gegenstand der öffentlichen Diskussion sein können und dürfen:

Hierbei ist auf Seiten des Persönlichkeitsrechtschutzes von Bedeutung, dass die beanstandete Äußerung als Werturteil (bzw. als solches zu behandelnde Frage) die Sozialsphäre des Klägers tangiert. Sie betrifft seine berufliche Tätigkeit, also einen Bereich, in dem sich die persönliche Entfaltung von vornherein im Kontakt mit der Umwelt vollzieht. Äußerungen im Rahmen der Sozialsphäre dürfen nur in Fällen schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht mit negativen Sanktionen verknüpft werden, so etwa dann, wenn eine Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung oder eine Prangerwirkung zu besorgen sind (vgl. Senatsurteile vom 20. Dezember 2011 – VI ZR 262/10, ZUM-RD 2012, 253 Rn. 12; vom 23. Juni 2009 – VI ZR 196/08, BGHZ 181, 328 Rn. 31; vom 17. November 2009 – VI ZR 226/08, NJW 2010, 760 Rn. 21). Dafür fehlen im Streitfall jegliche Anhaltspunkte. Wie sich ein Gewerbetreibender wertende, nicht mit unwahren Tatsachenbehauptungen verbundene Kritik an seiner gewerblichen Leistung in der Regel auch dann gefallen lassen muss, wenn sie scharf formuliert ist (vgl. nur Senatsurteil vom 16. Dezember 2014 – VI ZR 39/14, AfP 2015, 41 Rn. 21 mwN), muss ein Journalist im Zusammenhang mit seinen Veröffentlichungen das Hinterfragen seiner Motivation und deren kritische Beleuchtung durch andere, auch Pressevertreter, in aller Regel hinnehmen. Die Gewährleistung der Meinungsfreiheit durch Art. 5 Abs. 1 GG dient nämlich auch dazu, den Einfluss, den die journalistische Arbeit durch das öffentliche Medium hindurch unmittelbar auf die öffentliche Meinungsbildung nimmt, durch Einsichten in die Einstellung von Journalisten zu Nachrichten und ihrem Publikum in der Öffentlichkeit bewusst zu machen und durch Diskussion kontrollierbar zu halten (vgl. Senatsurteil vom 20. Januar 1981 – VI ZR 163/79, VersR 1981, 384, 385).

(…)

Bei der Abwägung ist zunächst zu berücksichtigen, dass die beanstandeten Äußerungen als Meinungsäußerungen ohne Weiteres dem Schutz von Art. 5 GG unterfallen. Zu Gunsten ihrer Zulässigkeit fällt erheblich ins Gewicht, dass der Artikel einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage liefert, weshalb bereits eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede spricht (Senatsurteile, vom 11. März 2008 – VI ZR 7/07, AfP 2008, 297 Rn. 31; vom 16. Juni 1998 – VI ZR 205/97, BGHZ 139, 95, 102; vom 12. Oktober 1993 – VI ZR 23/93, AfP 1993, 736, 737 sowie BGH, Urteil vom 24. Januar 2006 – XI ZR 384/03; BGHZ 166, 84 Rn. 100; BVerfGE 85, 1, 16, jeweils mwN). Denn die Presse nimmt im demokratischen Rechtsstaat als „Wachhund der Öffentlichkeit“ eine wichtige Funktion wahr, indem sie die Bevölkerung informiert und gegebenenfalls auf öffentliche Missstände hinweist, womit sie eine bedeutende Rolle im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung übernimmt (vgl. Senatsurteile vom 30. September 2014 – VI ZR 490/12, AfP 2014, 534, 537; vom 15. November 2005 – VI ZR 286/04, AfP 2006, 62, 65). Diese Funktion kann sie jedoch nur dann sachgerecht wahrnehmen, wenn die handelnden Journalisten sachlich unabhängig berichten. Für den Erhalt dieser Wächterfunktion ist es danach unabdingbar, dass etwaige Missstände bei den „Wächtern“ Gegenstand der Berichterstattung und der öffentlichen Diskussion sein können.

posted by Stadler at 12:02  

7.12.16

Anspruch auf Gegendarstellung wegen Äußerungen in einem Blog

Der ehemalige Piratenpolitiker Christopher Lauer (bis 2016 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses), der mittlerweile der SPD beigetreten ist, hat gerichtlich einen Gegendarstellungsanspruch gegen seinen früheren Parteikollegen Simon Lange durchgesetzt, wegen angeblich unrichtiger Tatsachenbehauptungen Langes in dessen Blog. Die Gegendarstellung ist im Blog Langes auch online.

Das Kammergericht hat mit Beschluss vom 28.11.2016 (Az.: 10 W 173/16) eine Beschwerde Langes gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe zurückgewiesen. Das Landgericht Berlin hatte Lange auf Antrag Lauers zuvor mit einstweiliger Verfügung vom 4.10.2016 (Az.: 27 O 513/16) zur Veröffentlichung der Gegendarstellung verpflichtet.

Interessant an der Entscheidung des Kammergerichts ist der Umstand, dass es sich um ein privates Blog mit nur unregelmäßigen Beiträgen handelt, wobei teilweise über Zeiträume von sechs Monaten hinweg kein einziger Blogbeitrag eingestellt wurde.

Der Gegendarstellungsanspruch ergibt sich aus § 56 Rundfunkstaatsvertrag (RStV). Diese Vorschrift setzt allerdings einen Anbieter von Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten voraus, in denen insbesondere vollständig oder teilweise Inhalte periodischer Druckerzeugnisse in Text oder Bild wiedergegeben werden.

Das Kammergericht hat das Vorliegen eines journalistisch-reaktionellen Angebots lediglich darauf gestützt, dass das Kriterium der Aktualität erfüllt sei, weil Lange immer wieder zu aktuellen Vorkommnissen und politischen Fragestellungen Stellung genommen habe. Mit der entgegenstehenden herrschenden Ansicht in der Literatur setzt sich das Kammergericht in seiner Entscheidung leider nicht auseinander. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass nur gelegentliche journalistisch-redaktionell gestaltete Texte auf privaten Homepages nicht erfasst werden (Mann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl., § 56 RstV, Rn. 11).

Wenn man sich die Beiträge auf Langes Website/Blog anschaut, wird man sich auch die Frage stellen müssen, inwieweit hier tatsächlich eine journalistisch-redaktionelle Gestaltung vorliegt. Ausweislich der Begründung zu § 54 Abs. 2 im 9. RÄStV sind „alle Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, die als elektronische Presse in Erscheinung treten“, erfasst. Hierzu hat der VGH Baden-Württemberg in einer Entscheidung aus dem Jahre 2014 ausgeführt:

Die Bindestrich-Verknüpfung „journalistisch-redaktionell“ bedeutet journalistisch und redaktionell, d.h. es müssen kumulativ beide Voraussetzungen erfüllt sein. Journalistische Angebote sind stets auch redaktionell gestaltet. Umgekehrt gehören aber nicht alle redaktionell gestalteten Angebote zum Online-Journalismus (Lent, ZUM 2013, 914 <915>). Journalistisch-redaktionelle Angebote zeichnen sich dadurch aus, dass bei ihnen Informationen nach ihrer angenommenen gesellschaftlichen Relevanz ausgewählt und zusammengestellt werden. Dahinter steht das Ziel des Anbieters, zur öffentlichen Kommunikation beizutragen (Held, in: Hahn/Vesting, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 3. Aufl., § 54 RStV Rn. 51). Dabei ist es allerdings nicht erforderlich, dass das Angebot sich an eine breite Öffentlichkeit richtet. Auch auf enge Zielgruppen zugeschnittene Angebote können journalistisch sein, wenn sie eine erkennbare publizistische Zielsetzung haben, d.h. von der Intention her auf Teilhabe am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung – jedenfalls innerhalb der Zielgruppe – angelegt sind (vgl. Lent, a.a.O. S. 915, 916; ähnlich BGH, Urt. v. 23.06.2009 – VI ZR 196/08BGHZ 181, 328 zum datenschutzrechtlichen Medienprivileg in § 41 Abs. 1 BDSG: journalistisch redaktionelle Gestaltung liegt vor, wenn die meinungsbildende Wirkung für die Allgemeinheit prägender Bestandteil des Angebots ist).

Man kann also bei sehr großzügiger Anwendung dieser Maßstäbe von einer journalistisch-redaktionellen Gestaltung ausgehen, wenn man allein darauf abstellt, dass es dem Blogger wesentlich darum geht, an der Meinungsbildung mitzuwirken. Wenn man allerdings ein Mindestmaß an journalistischer Arbeitsweise unterstellt und eine gewisse Nähe zur klassischen Presse verlangt, dürfte das Blog Langes die Anforderungen kaum erfüllen.

Die Entscheidung des Kammergerichts führt also dazu, dass selbst Gelegenheitsblogger, die vorwiegend über politische, gesellschaftliche, weltanschauliche Themen bloggen – aber auch Blogs aus dem Bereich der Kultur und des Sports könnten betroffen sein – und damit auf Meinungsbildung abzielen, als journalistisch-redaktionelle Anbieter gelten, mit der Folge, dass sie der erweiterten Impressumspflicht des § 55 Abs. 2 RStV unterliegen und der Gegendarstellungspflicht des § 56 RStV. Ob dies tatsächlich dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspricht, darf man bezweifeln. Es ließe sich dann auch nicht mehr nachvollziehbar erklären, warum nicht jeder, der auf Facebook oder Twitter vorwiegend Meinung postet, ebenfalls erfasst wäre.

posted by Stadler at 10:32  

6.12.16

Fordern kann man viel… – zur sog. Charta für digitale Grundrechte

Von Dr. Arnd-Christian Kulow und Thomas Stadler

Am 30.11.2016 hat eine Initiative von Netzaktivisten, Politikern, Wissenschaftlern und Autoren den Entwurf einer „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ vorgestellt.

Wir entsprechen dem Wunsch der Initiatoren und kommentieren den Vorschlag nachfolgend. „Gewogen und für zu leicht befunden“ ist vielleicht noch das mildeste Verdikt, jedenfalls von juristischer Seite. Die im einzelnen geäußerte und höchst berechtigte Kritik soll hier allerdings nicht nochmals vollständig wiederholt werden. Wir haben am Textende einige weiterführende Links zu kritischen Anmerkungen aufgenommen.

Die grundlegende Frage die sich uns stellt ist, ob das Vorgehen der Initiatoren als solches überhaupt hilfreich war und ist oder eher nicht. Um die Antwort vorwegzumehmen: Diese Charta ist nicht geeignet, die Grundrechte im digitalen Zeitalter zu stärken und sollte daher nicht weiter verfolgt werden. Eine öffentliche Debatte jedenfalls dieses Textes halten wir nicht für zielführend.

Wir unterstellen eine gute Absicht bei den Initiatoren und ja, die Digitalisierung wirft Fragen auf, die auch das Recht beantworten muss. Eine „Charta“ zu entwerfen, ist eine Möglichkeit einen Diskurs anzustoßen. Andern Orts ist schon gesagt worden, dass die Charta mit „digitalen“ Grundrechten allerdings etwas fordert, was es nicht gibt. Nein, das ist keine Beckmesserei, sondern mahnt sprachliche Klarheit an, die gerade bei solchen Texten notwendige Bedingung der Wirksamkeit ist.

Die Charta ist in doppelter Hinsicht anmaßend. Sie kombiniert Elemente des deutschen Grundgesetzes mit denen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, berücksichtigt aber in keinster Weise verfassungsjuristisches Handwerkszeug. Dies verwundert, sind doch renommierte Juristen unter den Initiatoren. Es ist längst verfassungsrechtliches Allgemeingut, dass Verfassungstexte und diesen nachempfundene „Charten“ Textstufen durchlaufen. In rechtlichen Kontexten, zumal wenn sie Neuland betreten ist „robustes“ Arbeiten angesagt und nicht mehr oder weniger freies Assoziieren.

Was hätte die Verfasser also tun sollen?

Es wäre zunächst eine Bestandsaufnahme von Grundrechten und einfachgesetzlichen Regelungen mit Bezug auf digitale Sachverhalte in allen Verfassungen und Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten durchzuführen gewesen. Brauchen wir überhaupt „digitale Grundrechte“ oder genügen uns die vorhandenen vollauf? So haben ja bekanntlich der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht schon sehr früh ein unbenanntes Grundrecht geschaffen, das gleichwohl in der Lage ist, auf neue Fragen der Digitalisierung zu antworten: das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme zeugen davon.

In einem zweiten Schritt hätte dann eine Defizitanalyse, bzw. wertende Rechtsvergleichung stattfinden müssen, um festzustellen, welche Lücken vorhanden sind und wie diese geschlossen werden können.

Die so gefundenen Ergebnisse hätte man anschließend mit dem Ziel einer Präzisierung bestehender Grundrechte sowohl in Fachkreisen als auch generell öffentlich diskutieren können. An einer derart strukturierten, methodischen Vorgehensweise fehlt es ganz augenscheinlich aber vollständig.

Was hat man stattdessen getan?

Die Verfasser versuchen, parallel zur bereits vorhandenen Grundrechtecharta der EU eine zweite (vollständige) Charta der digitalen Grundrechte zu schaffen, wobei beide offenbar gleichberechtigt nebeneinander stehen sollen. Der Ansatz verwundert bereits deshalb, weil man meinen könnte, die Unterscheidung zwischen einer Online- und Offlinewelt sei zu überwinden und nicht zu vertiefen.

Gibt es etwa eine besondere Menschenwürde im digitalen Raum oder vielleicht doch nur eine einzige universelle Menschenwürde? Wer die Frage in letzterem Sinne beantwortet, wird sich der Erkenntnis nicht verschließen können, dass Art. 1 Abs. 1 des Chartaentwurfs vollständig überflüssig ist.

Das erste ernsthafte juristische Problem wirft sodann bereits Art. 1 Abs. 3 des Entwurfs auf, der postuliert, dass die Charta gegenüber staatlichen Stellen und Privaten gelten soll. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Grundrechtsverpflichtete waren bislang stets nur staatliche Stellen, nachdem Grundrechte per definitionem Abwehrrechte gegenüber dem Staat sind. Träger von Grundrechten sind demzufolge (nur) Private, vorrangig natürliche Personen. Wenn man nun den Kreis der Grundrechtsverpflichteten auf Private ausdehnt, stellt dies nicht nur einen Bruch mit der bisherigen verfassungsrechtlichen Dogmatik dar, sondern wirft Folgefragen auf, die niemand mehr widerspruchsfrei wird beantworten können. Es entstünde nämlich dadurch die Situation, dass Private (zugleich) Grundrechtsberechtigte und –verpflichtete wären. Wird also das Verfassungsrecht zum Privatrecht, oder welche Bedeutung hat es, wenn Grundrechte zwischen Privaten gelten? Und wer wacht darüber? Diese Rolle wird selbstverständlich der Staat einehmen. Was das bedeutet ist klar. Die Charta macht ihn zum Leviathan: zum freiheitsfressenden Monster.

Darüber hinaus gilt die Grundrechtecharta der EU nach ihrem Art. 51 nur für Stellen der EU, für die Mitgliedsstaaten aber nur dann, wenn sie Unionsrecht durchführen. Das hat seinen  Grund darin, dass die EU keine umfassende Regelungskompetenz für alle Rechts- und Lebensbereiche besitzt und demzufolge auch keinen Grundrechtskatalog definieren kann, der uneingeschränkt für sämtliches Handeln der Mitgliedsstaaten gilt. Das soll nach Art. 1 Abs. 3 dieses Entwurfs allerdings anders sein, die Charta soll für jedwedes staatliches Handeln gelten und damit auch jegliches Handeln der Mitgliedsstaaten regeln. Das ist schlicht nicht europarechtskonform.

Die Grundkonzeption der Charta funktioniert auch bei anderen Grundrechten nicht, was wir exemplarisch anhand von Art. 5 (Meinungsfreiheit) verdeutlichen wollen. Soweit Art. 5 Abs. 1 des Entwurfs die Meinungsfreiheit auch für die digitale Welt – was ist das eigentlich? – gewährleistet, so ist dies schlicht überflüssig. Die Meinungsfreiheit ist bereits in Art. 11 der Grundrechtecharta und in sämtlichen Verfassungen der Mitgliedsstaaten gewährleistet, in Deutschland in Art. 5 GG.

Die sich anschließende Regelung in Art. 5 Abs. 2 der Digitalcharta ist je nach Lesart merkwürdig, gefährlich oder überflüssig. Eine Auslegung, die auf eine sinnvolle Regelung hindeuten könnte, erschließt sich uns derzeit nicht. Die Vorschrift fordert, dass digitale Hetze, Mobbing sowie Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden, zu verhindern sind und zwar durch die Grundrechtsverpflichteten, also durch staatliche Stellen und Private. Wenn also alle staatlichen Stellen und alle Privaten diese Pflicht trifft, ist also im Grunde jeder dazu verpflichtet das zu verhindern. Auch der Hetzer ist danach verpflichtet, sich selbst in die Schranken zu weisen. Hier zeigt sich bereits die Absurdität der Ausweitung des Kreises der Grundrechtsverpflichteten auf Private.

Was soll damit aber sachlich-inhaltlich geregelt werden? Handelt es sich um eine Schranke wie in Art. 5 Abs. 2 GG, wonach das Grundrecht auf Meinungsfreiheit seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, den gesetzlichen Bestimmungen des Jugend- und Ehrschutzes findet? Wenn das gemeint sein sollte, ist die Formulierung komplett misslungen. Dem Wortlaut nach soll eine unmittelbare Handlungspflicht normiert werden, was Fragen aufwirft, zumal es sich bei unbestimmten Begriffen wie Mobbing und Hetze noch nicht einmal um Rechtsbegriffe handelt. Letztlich gehört eine solche Regelung systematisch in ein einfaches Gesetz. Sie kann nicht Verfassungsrang haben, weil sonst unterbunden wird, dass  sie uneingeschränkt auch anhand des Grundrechts überprüft und an diesem gemessen wird. Hetzerische Postings sind nach unserem aktuellen Verständnis von Meinungsfreiheit, wie es durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geprägt worden ist, keineswegs per se unzulässig. Es ist ganz im Gegenteil so, dass ein freiheitlich-demokratischer Staat in diesem Bereich u.U. sehr viel von dem ertragen muss, was man als hetzerisch, rassistisch oder diskriminierend empfindet.

Darüber hinaus muss der hier zum Grundrechtsverpflichteten mutierte Private – angesprochen sind damit u.a. Betreiber von sozialen Netzen oder Meinungsportalen – auch immer die Informationsfreiheit seiner Nutzer berücksichtigen. Die Informationsfreiheit regelt Art. 5 des Entwurfs interessanterweise aber nicht, sie wird vielmehr scheinbar in Art. 2 Abs. 1 als Recht auf freie Information angesprochen. Ob damit tatsächlich die Informationsfreiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 1 S. 1 (2. Alt.) GG und Art. 11 Abs. 1 S. 2 EU-Grundrechtecharta abgebildet wird, erscheint angesichts des Wortlauts fraglich. Wer, wie die Verfasser dieser Charta, den Anspruch hat, die Meinungsfreiheit nochmals für den Digitalbereich zu regeln, der sollte dies zumindest vollständig tun und nicht die Hälfte weglassen.

Der aktuelle Textvorschlag wirft insgesamt die Frage auf, ob die dort skizzierte Vorstellung von Meinungsfreiheit nicht möglicherweise (deutlich) hinter dem Rahmen zurückbleibt, den EGMR und BVerfG abgesteckt haben. Die Meinungsfreiheit soll hier in einer Art und Weise einschränkt werden, die die Bedeutung und Tragweite dieses für jeden demokratischen Rechtsstaat schlicht konstituierenden Grundrechts fundamental verkennt.

Man kann insgesamt sicherlich darüber diskutieren, ob der tradierte Katalog der Grundrechte ergänzungsbedürftig ist. Existierende Grundrechte wie die Meinungsfreiheit müssen dafür aber nicht neu- und vor allem nicht umdefiniert werden.

Die Charta vergisst zudem auch, dass das vom BVerfG in der Lebach-Entscheidung in seiner Verfassungsgemäßheit bestätigte Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seinen Ausprägungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme sehr wohl in der Lage ist, den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen. Dass die datenschutzrechtlichen Regelungen des Entwurfs defizitär sind und der Entwurf insoweit ein „heilloses Durcheinander aus Buzzwords, unvollständigen Begriffssammlungen und ungenutzten Chancen“ darstellt, hat Malte Engeler treffend herausgearbeitet. Insgesamt ist die Frage zu stellen, ob wirklich Lücken des grundrechtlichen Systems zu beklagen sind oder ob wir nicht eher ein Vollzugsgedefizit beobachten können, an dem auch neue und veränderte Grundrechte nichts ändern werden. Die Schaffung neuer Grundrechtskataloge ist nicht die Antwort auf die zunehmende Gefährdung der Grundrechte in der sog. digitalen Welt. Vielmehr sollte man sich Gedanken darüber machen, wie man den bereits vorhandenen und weitestgehend ausreichenden Rechten und Regelungen zu stärkerer Geltung verhilft.

Eine methodische und wissenschaftliche Vorgehensweise unter Berücksichtigung des vorhandenen Grundrechtsniveaus hätte die Intiatoren vor ihrem zentralen Fehler bewahrt: Den an das Grundgesetz angelehnten und um Elemente der Grundrechtecharta ergänzten Entwurf allen Ernstes Europa als Lösung anzudienen. Wolfgang Michal kritisiert den Entwurf völlig zurecht als deutschen Sonderweg. Bescheidenheit und Integrationskompetenz, das sollten wir Europa anbieten, auch im Bereich der Informationstechnologie.

 

Weiterführende Links:

Unstable – Der Digitalcharta fehlt ihr Datenschutzfundament (Malte Engeler)

Verkehrte Welt: Zur Zweckentfremdung von “Grundrechten” und zur Verklärung des “Nichtwissens” (Niko Härting)

„Digi­tale Grund­rechte“ – warum eigent­lich? (Niko Härting)

Digitale Chartastimmung (Markus Kompa)

Kommentare zur “Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union” (Jürgen Geuter)

Vorschlag für EU-Digitalgrundrechte: Nachbesserungen beim Urheberrecht nötig (Julia Reda)

Digitalcharta: Dinge verbieten, im Namen der Freiheit (Simon Assion)

Die Digitalcharta – und was wir statt dessen brauchen (Marc Pütz-Poulalion)

posted by Arnd Kulow at 09:20