Vor einigen Wochen hatte ich eine (erste) Analyse der Entscheidung des BGH zu Netzsperren vorgelegt, nachdem der Volltext beider Entscheidungen (Az.: I ZR 174/14 und I ZR 3/14) vorlag. Der Kollege Sascha Kremer hat ebenfalls eine kritische und äußerst lesenswerte Besprechung der Urteile im CR-Blog veröffentlicht. Kremer erläutert sehr anschaulich, wie der BGH die Vorgaben seiner eigenen Störerdogmatik fast nach Belieben modifiziert, eine Technik die man kaum mehr als Dogmatik umschreiben kann, ist so doch eigentlich eher das Gegenteil davon.
Die Entscheidungen des BGH werfen zudem Fragen auf, die ich mit den Schlagworten Overblocking und Fernmeldegeheimnis umreißen möchte und in meinem oben zitierten Blogbeitrag noch nicht abgehandelt habe.
Die Bedenken, die Auferlegung von Sperrpflichten gegenüber einem Access-Provider könnte in Konflikt mit dem verfassungsrechtlichen oder einfachgesetzlichen Fernmeldegeheimnis stehen, wischt der BGH ohne tiefergehende Begründung vom Tisch. Der BGH führt hierzu aus:
Der Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG ist schon deshalb nicht berührt, weil das öffentliche Angebot von Dateien zum Download und auch der Zugriff darauf keine von dieser Vorschrift geschützte Individualkommunikation darstellt.
Das mag so sein. Vorliegend geht es allerdings um die Frage, welche Maßnahmen ein Access-Provider ergreifen muss, um den Zugriff seiner Kunden auf im Netz veröffentlichte Informationen zu unterbinden und inwieweit solche Maßnahmen die Providerkunden in ihrem Fernmeldegeheimnis betreffen. Der BGH stellt also bei seiner Betrachtung auf den Informationsanbieter ab, während es tatsächlich um die Frage gehen muss, in welche Rechte seiner Kunden der Provider eingreifen muss, um Access-Sperren zu realisieren. Mit der vom BGH gegebenen Begründung lässt sich ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis also nicht verneinen.
Der BGH führt dann weiter aus:
Dass der Zugriff auf ein öffentliches Angebot zum Download jeweils mittels individueller technischer Kommunikationsverbindungen erfolgt, rechtfertigt die Einstufung als Kommunikation im Sinne des Art. 10 Abs. 1 GG nicht, weil eine bloße technische Kommunikation nicht die spezifischen Gefahren für die Privatheit der Kommunikation aufweist, die diese Vorschrift schützt (vgl. Durner, ZUM 2010, 833, 840 f.). Ein solcher Zugriff stellt sich vielmehr als öffentliche, der Nutzung von Massenmedien vergleichbare Kommunikationsform dar, die von anderen Grundrechten – insbesondere Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG – erfasst wird (vgl. Billmeier aaO S. 183).
Das bedeutet also nichts anderes, als, dass die einzelne, individuelle Kommunikationsverbindung dann nicht mehr von Art. 10 GG und § 88 TKG geschützt sein soll, wenn am Ende nur auf einen allgemein zugänglichen Server zugegriffen wird. Diese Art der Betrachtung schreit förmlich nach einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Die Ansicht des BGH bedeutet nämlich zu Ende gedacht, dass weite Teile der Internetkommunikation gar nicht mehr dem Fernmeldegeheimnis unterliegen würden. Das Fernmeldegeheimnis schützt traditionell auch die näheren Umstände der Kommunikation, insbesondere also, wann, welche Personen miteinander kommuniziert haben. Soll das für die Kommunikation eines Individuums mit einem Webserver nicht mehr gelten? Wäre demnach die Information, welches Informationsangebot ein Nutzer zu einem bestimmten Zeitpunkt aufruft, nicht mehr vom Fernmeldegeheimnis geschützt? Das ist schon deshalb schwer nachvollziehbar, weil der Kommunikationsvorgang des Aufrufs eines bestimmten Informationsangebots als solcher ja nicht öffentlich und massenhaft erfolgt. Hinzu kommt, dass man auch einen Webserver gerade zum Zwecke der Individualkommunikation aufrufen kann. Wenn jemand auf gmx.net geht, um dort über das Webinterface seine E-Mails abzurufen oder bei Facebook eine private Nachricht schreibt, wäre selbst das nach der Logik des BGH Massenkommunikation. Der Provider, der den Nutzeraufruf erfasst und anschließend umleitet, kann in einem automatisierten technischen Verfahren außerdem gar nicht erkennen, zu welchem Zweck sein Kunde einen Server aufruft.
Wenn man, wie der BGH das tut, zwischen Massen- und Individualkommunikation differenzieren will, muss man erkennen, dass der Aufruf eines bestimmten Angebots durch einen individuellen Nutzer immer ein der Individualkommunikation zuzuordnender Vorgang ist, während (nur) die Bereitstellung eines allgemein abrufbaren Angebots als Massenkommunikation eingestuft werden kann. Von Massenkommunikation kann man auch begrifflich nur aus Sicht des Anbieters sprechen, weil er sein Angebot für eine unbestimmte Vielzahl von Personen bereitstellt. Aus Sicht des einzelnen Nutzers, der indivuduell bestimmte Internetinhalte aufruft, handelt es sich stets um Individualkommunikation.
Die Unterscheidung zwischen Massen- und Individualkommunikation entstammt dem Rundfunkzeitalter und ist nicht ohne weiteres geeignet, neue Kommunikationsformen gegeneinander abzugrenzen. Denn ein Sendemedium wie der Rundfunk kennt das Phänomen eines individuellen Abrufs einzelner Angebote überhaupt nicht, weil es eben nur an ein Massenpublikum ausstrahlt. Die unreflektierte Übertragung überkommener Begriffe auf neu- und andersartige Kommunikationsformen führt hier also erkennbar zu falschen Ergebnissen.
Bezeichnend an der Entscheidung des BGH ist auch der Umstand, dass man sich insoweit letztlich auf einen einzelnen Aufsatz stützt, der im Interesse der Rechteinhaber verfasst und insoweit auch äußerst einseitig gehalten ist.
Der BGH stellt in seiner Entscheidung kurz verschiedene Arten von Access-Sperren dar, die er als „DNS-Sperre“, „IP-Sperre“ und“URL-Sperre durch Verwendung eines Zwangs-Proxys“ bezeichnet, die er offenbar allesamt für denkbar hält. An dieser Stelle erwähnt der BGH nicht, dass diese Maßnahmen eine mehr oder minder tiefgreifende Manipulation technischer Standards erfordert und damit auch tief in den Kommunikationsvorgang als solchen eingreifen.
Daneben überrascht der BGH mit der These, dass (dynamische) IP-Adressen Bestandsdaten im Sinne von § 95 TKG seien und keine Verkehrsdaten im Sinne von § 96 TKG. Das ist schon deshalb unrichtig, weil eine dynamische IP-Adresse ja immer wieder neu vergeben und zugewiesen wird, sobald ein Nutzer eine neue Internetverbindung aufbaut und § 96 Abs. 1 Nr. 1 TKG die Nummern und Kennungen der beteiligten Anschlüsse, worunter zwanglos auch IP-Adressen fallen, als Verkehrsdaten qualifiziert.
Auch das Problem des Overblocking wischt der BGH mit einer gewissen Nonchalance vom Tisch und setzt sich damit gleichzeitig in Widerspruch zu der Rechtsprechung des EuGH, der er vorgibt zu folgen.
Der BGH hält es für denkbar und verhältnismäßig 4 % legale Inhalte auf einem Server mitzublockieren. Wenn sich also auf einem Webserver 100.000 Angebote befinden, wäre eine Komplettblockade nach Ansicht des BGH denkbar, wenn „nur“ 4.000 legale Inhaltsangebote mitgesperrt werden. Der BGH führt dazu u.a. aus:
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist deshalb nicht auf eine absolute Zahl rechtmäßiger Angebote auf der jeweiligen Seite, sondern auf das Gesamtverhältnis von rechtmäßigen zu rechtswidrigen Inhalten abzustellen und zu fragen, ob es sich um eine nicht ins Gewicht fallende Größenordnung von legalen Inhalten handelt (vgl. Leistner/Grisse, GRUR 2015, 105, 108 f.).
Demgegenüber hat der EuGH betont, dass die Sperrmaßnahme streng zielorientiert sein muss und Providerkunden, die nach rechtmäßigen Informationen suchen, dadurch nicht beeinträchtigt werden dürfen. Der EuGH führt hierzu aus:
Dabei müssen die Maßnahmen, die der Anbieter von Internetzugangsdiensten ergreift, in dem Sinne streng zielorientiert sein, dass sie dazu dienen müssen, der Verletzung des Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts durch einen Dritten ein Ende zu setzen, ohne dass Internetnutzer, die die Dienste dieses Anbieters in Anspruch nehmen, um rechtmäßig Zugang zu Informationen zu erlangen, dadurch beeinträchtigt werden. Andernfalls wäre der Eingriff des Anbieters in die Informationsfreiheit dieser Nutzer gemessen am verfolgten Ziel nicht gerechtfertigt.
Die qualitative Vorgabe des EuGH münzt der BGH also einfach um und macht sie zum Gegenstand einer quantitativen Abwägung, die nicht auf die Sicht der übrigen Nutzer/Providerkunden abstellt, sondern nur fragt, wie das Verhältnis von urheberrechtswidrigen und rechtmäßigen Inhalten ist. Der EuGH verlangt allerdings, dass Nutzer, die rechtmäßig Zugang zu Informationen suchen, gar nicht beeinträchtigt werden dürfen. Die vom BGH postulierte These, dass ein nicht ins Gewicht fallender Anteil von legalen Inhalten – wobei man sich fragen muss, was darunter genau zu verstehen ist – mitgesperrt werden könne, sucht man in der Entscheidung des EuGH vergeblich.
Das Fazit des BGH lautet also, dass ein bisschen Overblocking hingenommen werden muss. Wo genau die Grenze liegt und nach welchen Kriterien diese Grenze bestimmt werden soll, erfährt man allerdings nicht.