EuGH kassiert Richtlinie über Vorratsdatenspeicherung komplett
Zu der mit Spannung erwarteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung (Urteil vom 08.04.2014, Az.: C – 293/12 und C – 594/12) liegt bislang nur die Pressemitteilung vor.
Die gute Nachricht lautet in jedem Fall, dass der EuGH die Richtlinie vollständig für ungültig erklärt hat und insoweit eine zeitliche Begrenzung nicht vorgenommen hat. Es gibt damit keinerlei Übergangsregelungen, die Unwirksamkeit wirkt auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie zurück.
Damit steht auch fest, dass es keine europarechtliche Verpflichtung der Bundesrepupublik Deutschland gibt, eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen.
Ob und in welchem Umfang die Entscheidung des EuGH Raum bietet für den Erlass einer neuen Richtlinie, wird sich erst nach eingehender Lektüre des Volltexts beurteilen lassen. Die politische Diskussion muss nach dieser Entscheidung von vorne beginnen, ein nationaler Alleingang und Schnellschuss in Deutschland – den die Union offenbar plant – ist nicht tunlich.
Der EuGH sieht in der Verpflichtung zur Vorratsspeicherung und der Gestattung des Zugangs der zuständigen nationalen Behörden zu ihnen einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten.
Das Gericht geht allerdings davon aus, dass der Eingriff gerechtfertigt sein könnte, aber durch die konkrete Ausgestaltung der Richtlinie nicht ist. In der Pressemitteilung des EuGH heißt es hierzu:
Zwar ist die nach der Richtlinie vorgeschriebene Vorratsspeicherung der Daten zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet, doch beinhaltet sie einen Eingriff von großem Ausmaß und von besonderer Schwere in die fraglichen Grundrechte, ohne dass sie Bestimmungen enthielte, die zu gewährleisten vermögen, dass sich der Eingriff tatsächlich auf das absolut Notwendige beschränkt.
Erstens erstreckt sich die Richtlinie nämlich generell auf sämtliche Personen, elektronische Kommunikationsmittel und Verkehrsdaten, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme anhand des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen.
Zweitens sieht die Richtlinie kein objektives Kriterium vor, das es ermöglicht, den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den Daten und deren Nutzung zwecks Verhütung, Feststellung oder strafrechtlicher Verfolgung auf Straftaten zu beschränken, die im Hinblick auf das Ausmaß und die Schwere des Eingriffs in die fraglichen Grundrechte als so schwerwiegend angesehen werden können, dass sie einen solchen Eingriff rechtfertigen. Die Richtlinie nimmt im Gegenteil lediglich allgemein auf die von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmten „schweren Straftaten“ Bezug. Überdies enthält die Richtlinie keine materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den Daten und deren spätere Nutzung. Vor allem unterliegt der Zugang zu den Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle.
Drittens schreibt die Richtlinie eine Dauer der Vorratsspeicherung der Daten von mindestens sechs Monaten vor, ohne dass eine Unterscheidung zwischen den Datenkategorien anhand der betroffenen Personen oder nach Maßgabe des etwaigen Nutzens der Daten für das verfolgte Ziel getroffen wird.
Die Speicherungsfrist liegt zudem zwischen mindestens sechs und höchstens 24 Monaten, ohne dass die Richtlinie objektive Kriterien festlegt, die gewährleisten, dass die Speicherung auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie keine hinreichenden Garantien dafür bietet, dass die Daten wirksam vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang und jeder unberechtigten Nutzung geschützt sind. Unter anderem gestattet sie es den Diensteanbietern, bei der Bestimmung des von ihnen angewandten Sicherheitsniveaus wirtschaftliche Erwägungen (insbesondere hinsichtlich der Kosten für die Durchführung der Sicherheitsmaßnahmen) zu berücksichtigen, und gewährleistet nicht, dass die Daten nach Ablauf ihrer Speicherungsfrist unwiderruflich vernichtet werden.
Der Gerichtshof rügt schließlich, dass die Richtlinie keine Speicherung der Daten im Unionsgebiet vorschreibt. Sie gewährleistet damit nicht in vollem Umfang, dass die Einhaltung der Erfordernisse des Datenschutzes und der Datensicherheit durch eine unabhängige Stelle überwacht wird, obwohl die Charta dies ausdrücklich fordert. Eine solche Überwachung auf der Grundlage des Unionsrechts ist aber ein wesentlicher Bestandteil der Wahrung des Schutzes der Betroffenen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten.
Update:
Der Volltext der Entscheidung ist leider nicht wesentlich ergiebiger als die Pressemitteilung. Der EuGH hat keine wirklich konkreten Vorgaben gemacht, wie seine Rechtsprechung in eine grundrechtskonforme Richtliniengestaltung umzusetzen sein könnte.
Bereits das Urteil des BVerfG ist nicht einfach umsetzbar, aber nach dieser Entscheidung lässt sich juristisch kaum mehr prognostizieren, wo genau die Grenzen einer zulässigen und grundrechtskonformen Vorratsdatenspeicherung verlaufen.
Es könnte zwar durchaus einen neuen Anlauf für eine Vorratsdatenspeicherung geben, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Stichhaltige Kriterien für eine grundrechtskonforme Ausgestaltung liefert der EuGH aber nicht. Vielleicht war auch genau das seine Absicht. Man darf deshalb annehmen, dass es so schnell keine neue Richtlinie über eine Vorratsdatenspeicherung geben wird, weil niemand so genau sagen kann, wie sie auszugestalten wäre. Was das für die Ambitionen von Bundesinnenminister de Maizière bedeutet, der gestern noch kräftig für eine züggige Einführung der Vorratsdatenspeicherung trommelte, bleibt abzuwarten. Mit Brecht könnte man also sagen: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Der österreichische Kollege Hans Peter Lehofer weist allerdings zu recht darauf hin, dass auch eine (autonome) nationale Regelung den Anforderungen des EuGH genügen muss. Man kann also in Deutschland keinesfalls nunmehr am Maßstab der Entscheidung des BVerfG eine Neuregelung stricken, sondern muss vielmehr die vermutlich strengeren, jedenfalls unklareren Vorgaben des EuGH ebenfalls berücksichtigen.