Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

29.8.23

Die SZ und die Causa Aiwanger

In sozialen Medien tobt gerade ein erbitterter Streit darüber, ob die Süddeutsche Zeitung in der Affäre um das Nazipamphlet aus dem Hause Aiwanger seriös berichtet hat oder ob es sich um Kampagnenjournalismus handelt. Nach der Erstveröffentlichung unter dem Titel „Das Auschwitz-Pamphlet“ hat die SZ mit einer Reihe weiterer Veröffentlichungen zum Thema nachgelegt.

Gesichert ist mittlerweile, dass Hubert Aiwanger Exemplare dieser NS-verherrlichenden Schrift in seinem Schulranzen hatte und ihn die Schule damals dafür auch sanktioniert hat, weil sie ihn für den Urheber hielt. Hubert Aiwanger selbst hat angegeben nicht mehr zu wissen, ob er das Flugblatt auch verteilt hat.

Nach der Veröffentlichung hat sich Aiwangers Bruder zu Wort gemeldet und die Urheberschaft auf sich genommen. Da das Pamphlet allerdings auch die Wir-Form verwendet, drängt sich weiterhin die Frage auf, ob Helmut Aiwanger der alleinige Urheber ist.

Bekannt ist ebenfalls, dass die SZ Hubert Aiwanger drei Mal Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat und ihn nach eigenen Angaben der Zeitung unter anderem konkret mit dem Fund in der Schultasche und der Bestrafung, basierend auf den Erinnerungen mehrerer Zeugen konfrontiert hat. Aiwanger hatte stets bestritten, mit dem Flugblatt in Verbindung zu stehen. Auf die Geschichte mit dem Bruder hat er die SZ nicht hingewiesen, obwohl er dazu also die Möglichkeit hatte.

Auch unter Juristen wird in sozialen Netzen darüber gestritten, ob die Berichterstattung der SZ rechtmäßig war.

Mehrfach wurde insoweit das Argument vorgebracht, die Berichterstattung sei allein deshalb rechtswidrig, weil die SZ den hinter der Paywall liegenden Artikel angeteasert habe, hierbei aber nicht auf das Dementi von Aiwanger hingewiesen habe. Das ist fürwahr eine medienrechtlich interessante Fragestellung, aus der man allerdings nicht den Schluss ziehen kann, dass damit die Rechtmäßigkeit der gesamten Berichterstattung in Frage stünde. Wenn man davon ausgeht, dass aus Gründen der Ausgewogenheit im Rahmen einer sog. Verdachtsberichterstattung auch bei Hinweisen auf einen Artikel, dessen Lektüre zahlenden Abonnenten vorbehalten ist, ein Hinweis auf die Stellungnahme des Betroffenen erfolgen muss, so könnte Aiwanger von der SZ konkret nur die Unterlassung dieses Verhaltens verlangen. Die Veröffentlichung des vollständigen Artikels kann auf diese Art und Weise schwerlich untersagt werden, wenn der vollständige Artikel für sich genommen die Grenzen der Verdachtsberichterstattung einhält.

Ob sich dahinter aber überhaupt ein valides Argument verbirgt, bleibt fraglich.

Ganz grundsätzlich hat die Presse die Möglichkeit, unter gewissen Voraussetzungen auch über Tatsachen und Sachverhalte zu berichten, deren Wahrheitsgehalt noch nicht abschließend feststeht. Das ist ein Privileg der Presse und bildet eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ansonsten bei Tatsachen immer der volle Wahrheitsnachweis zu führen ist.

Die Verdachtsberichterstattung ist dann zulässig, wenn ein Mindestbestand an Beweistatsachen vorliegt, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.

Was man in jedem Fall sagen kann, ist, dass Hubert Aiwanger Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist und im Artikel auch auf sein Dementi verwiesen wurde. Es handelt sich zudem auch um einen Vorgang von erheblichem Gewicht, an dem ein erhebliches Informationsbedürfnis besteht. Der Umstand, dass der Vorfall 35 Jahre zurückliegt und Aiwanger damals erst 17 Jahre alt war, würde bei anderen Persönlichkeiten einer Veröffentlichung im Wege stehen, nicht aber bei einem Spitzenpolitiker, bei dem der Persönlichkeitsschutz nach der Rechtsprechung am schwächsten ausgeprägt ist.

Die Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, zu erfahren, ob der stellvertretende Bayerische Ministerpräsident in seiner Jugend nationalsozialistischen Gedankengut anhing und ob er sich hiervon gelöst hat. Dies dient auch der Beurteilung der Frage, ob sein aktuelles politisches Handeln davon noch beeinflusst wird. Der Zeitablauf und auch der Umstand, dass eine Straftat der Volksverhetzung verjährt wäre, greift demgegenüber nicht durch. Gerade bei so essentiellen Themen wie einer Nähe zum NS, kann sich ein Politiker keinesfalls auf ein „Recht auf Vergessen“ berufen.

Die Erstberichterstattung war auch entsprechend zurückhaltend, es wurde davon gesprochen, dass Aiwanger das Pamphlet geschrieben haben soll und davon, dass er als Urheber von der Schule zur Verantwortung gezogen worden sein soll. Die SZ hat also nicht den Eindruck erweckt, als sei Aiwanger bereits überführt.

Bleibt insbesondere die Frage, ob ausreichende Beweistatsachen vorlagen, die die Veröffentlichung nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung rechtfertigen. Gesichert ist jedenfalls, dass Hubert Aiwanger das Pamphlet in seiner Schultasche hatte und von der Schule sanktioniert wurde, weil er als Urheber angesehen worden war. Wir wissen nicht abschließend, was die Informanten der SZ im Einzelnen berichtet haben, ob sie eidesstattliche Versicherungen abgegeben haben und ob die SZ noch weitere Beweismittel auf dem Tisch hat. Aber auch das was bereits bekannt ist, dürfte ausreichend sein. Denn die Aussage, dass er von der Schule zur Verantwortung gezogen worden ist, ist ebenso wahr, wie die Aussage, er habe Exemplare der Schmähschrift in seiner Schultasche gehabt. Daraus ergibt sich – jedenfalls im Zeitpunkt der Veröffentlichung – der dringende und naheliegende erhebliche Verdacht, dass Hubert Aiwanger Urheber oder Miturheber dieser Schmähschrift ist.


posted by Thomas Stadler at 16:14  

11.11.22

Das bayerische Modell: Präventivhaft für Klima-Aktivisten

In den letzten Tagen hat die Meldung für Aufsehen gesorgt, dass in Bayern zwölf Klima-Aktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ im Anschluss an zwei Fahrbahn-Blockaden für 30 Tage in Gewahrsam genommen worden sind.

Die Aktivisten hatten nach Aussagen der Polizei weitere Blockaden angekündigt. Deshalb wurde nach Angaben der Polizei für 15 Aktivisten beim Amtsgericht München polizeilicher Gewahrsam bis zum 2. Dezember beantragt. Das Gericht bestätigte die Ingewahrsamnahme von zwölf Personen.

Rechtliche Grundlage dieser Maßnahme ist Art. 17 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) der u.a. folgendes regelt:

Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn (…)

das unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat zu verhindern; die Annahme, daß eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere darauf stützen, daß

a) die Person die Begehung der Tat angekündigt oder dazu aufgefordert hat oder Transparente oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung mit sich führt; dies gilt auch für Flugblätter solchen Inhalts, soweit sie in einer Menge mitgeführt werden, die zur Verteilung geeignet ist,

b) bei der Person Waffen, Werkzeuge oder sonstige Gegenstände aufgefunden werden, die ersichtlich zur Tatbegehung bestimmt sind oder erfahrungsgemäß bei derartigen Taten verwendet werden, oder ihre Begleitperson solche Gegenstände mit sich führt und sie den Umständen nach hiervon Kenntnis haben mußte, oder

c) die Person bereits in der Vergangenheit mehrfach aus vergleichbarem Anlaß bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder Straftaten als Störer betroffen worden ist und nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist;

Die Polizei muss nach der Ingewahrsamnahme unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeiführen (Art. 18 PAG), die Maßnahme ist zeitlich auf maximal einen Monat begrenzt und kann höchstens auf insgesamt zwei Monate verlängert werden (Art. 20 PAG).

Die gesetzliche Regelung ist politisch umstritten und verfassungsrechtlich bedenklich. Denn eine präventive Freiheitsentziehung stellt einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar, der allenfalls ultima ratio sein kann und bei dem sich auch die Frage stellt, ob er – wie es die bayerische Regelung vorsieht – schon angeordnet werden kann, wenn die Begehung einer beliebigen Straftat droht oder ob man die Regelung nicht vielmehr auf die Begehung schwerster Straftaten, die dann in einem Katalog abschließend aufgezählt werden könnten, beschränken müsste. Es erscheint durchaus zweifelhaft, dass beispielsweise bereits die Gefahr einer Nötigung es rechtfertigen soll, den Störer für einen Monat in Gewahrsam zu nehmen.

Ob die Regelung des PAG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wird in absehbarer Zeit das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Der Amtsrichter, der über den Polizeigewahrsam zu entscheiden hatte, kann sich allerdings nicht darauf stützen, dass die gesetzliche Regelung verfassungswidrig ist. Er ist vielmehr an das Gesetz gebunden.

Was er aber kann und muss, ist, zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 17 PAG vorliegen, wobei er hierbei auch die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen hat. Im konkreten Fall findet nicht nur eine empfindliche Freiheitsentziehung statt, sondern die Aktivisten werden für die Dauer von 30 Tagen auch daran gehindert, sich zu versammeln. Es ist also hier auch – und das ist in anderen Fällen des Art. 17 PAG nicht zwingend der Fall – das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen.

Das Wegsperren von politischen Aktivisten, mit dem Ziel, sie an weiteren Demonstrationen zu hindern, ist etwas, was man vor allem aus Diktaturen und Unrechtsstaaten kennt. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat und damit auch der Richter, der die Einhaltung des Rechts zu gewährleisten hat, muss sich dessen bewusst sein und daher auch die Frage stellen, ob eine Präventivhaft für Klimaaktivisten unter Berücksichtigung von Bedeutung und Tragweite der betroffenen Grundrechte überhaupt verhältnismäßig sein kann.

Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Sitzblockaden strafbar sind oder aber vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt sind, beschäftigt die deutschen Gerichte seit Jahrzehnten. Eine klare und für alle Fälle einheitliche Antwort auf diese Frage gibt es nicht.

Man kann jedenfalls im Grundsatz nach der Rechtsprechung des BVerfG davon ausgehen, dass Sitzblockaden, die der öffentlichen Meinungsbildung dienen, in den Schutzbereich von Art. 8 GG fallen.

Ob eine Sitzblockade strafbar ist oder nicht, hängt von zahlreichen Aspekten ab. Das BVerfG hat hierzu ausgeführt:

Allerdings haben die staatlichen Organe die grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 87, 399 <407>). Das Bundesverfassungsgericht hat zum Schutz der Versammlungsfreiheit vor übermäßigen Sanktionen für die Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB besondere Anforderungen aufgestellt (vgl. BVerfGE 104, 92 <109 ff.>). 3

Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt.

Ob eine Sitzblockade strafbar ist, lässt sich also erst nach einer anspruchsvollen Prüfung des Einzelfalls beurteilen.

Auch vor diesem Hintergrund wirft die Entscheidung des Amtsgerichts München Fragen auf. Denn ein Präventivgewahrsam setzt die Feststellung voraus, dass bereits Straftaten begangen wurden und die Begehung weiterer Straftaten unmittelbar bevorsteht. Beides lässt sich hier möglicherweise nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit bejahen.

Selbst dann, wenn man die Vorschriften des PAG für verfassungskonform hält, stellt sich die Frage, ob Art. 17 PAG das richtige Instrumentarium ist, um gegen Klimaaktivisten, die Straßen blockieren vorzugehen.

An der Rechtmäßigkeit dieses Münchener Präventivgewahrsams bestehen erhebliche Zweifel. Denn der Staat greift im konkreten Fall in schwerwiegender Art und Weise in zwei Grundrechte ein. Gerechtfertigt wird dies mit der Behauptung, es müsse die Begehung von Straftaten, die allerdings nicht dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen sind, sondern eine Strafandrohung im unteren Bereich enthalten, verhindert werden. Hinzu kommt, dass auch gar nicht ausreichend geklärt ist, ob die Klimaaktivisten sich im konkreten Fall überhaupt strafbar gemacht haben und tatsächlich die Begehung weiterer Straftaten droht.

Da mir der ein oder andere Leser unterstellen wird, dass meine Einschätzung von Sympathie für die „Letzte Generation“ geprägt sein könnte, hier nur der Hinweis, dass ich die Aktionen dieser Gruppe äußerst kritisch sehe und keineswegs für unterstützenswert halte.

Aber ein Rechtsstaat darf und kann keine Demonstranten wegsperren. Sonst stellt er sich selbst in Frage.

posted by Thomas Stadler at 20:27  

14.10.22

BGH entscheidet erneut zu Access-Sperren

Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein reiner Zugangsprovider verpflichtet werden kann, seine Kunden von bestimmten Internetangeboten auszusperren, ist Gegenstand einer schon jahrzehntelangen Diskussion.

Mittlerweile hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass zumindest vorrangig der Inhaltsanbieter oder der Hoster in Anspruch zu nehmen sind. Wann allerdings ein Vorgehen gegen die vorrangig Haftenden nicht mehr möglich ist oder als aussichtslos zu gelten hat, ist vielfach unklar.

Der BGH hat jetzt mit Urteil vom 13.10.2022 (Az.: I ZR 111/21 – DNS-Sperre) entschieden, dass gegen innerhalb der Europäischen Union ansässige Inhaltsanbieter oder Host-Provider zumindest ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich anzustrengen ist.

Das schafft ein Stück Rechtsklarheit.

Zur Pressemitteilung des BGH

posted by Thomas Stadler at 18:45  

30.9.22

OLG München zu den Aufklärungspflichten des Anbieters einer Business-Software-Lösung

 Oberlandesgericht München, Beschluss vom 08.08.2022

Az.: 20 U 3236/22 e (52 O 367/20 LG Landshut)

Leitsätze des Verfassers:

Die zeitlich begrenzte entgeltliche Überlassung von Standardsoftware ist als Mietvertrag zu qualifizieren.

Der Anbieter einer Buchungssoftware (für Hotels) muss von sich aus klären, welcher Art der Betrieb seines Kunden ist und welche Anforderungen die zu verwendende Buchungssoftware im Betrieb des Kunden erfüllen soll. Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein Pflichtenheft hätte erstellt werden müssen, da der Softwareanbieter auch ohne ein solches Pflichtenheft als (allein) Fachkundiger die genannte Aufklärung betreiben muss.

Beschluss des OLG München:

Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 28.04.2022, Az. 52 O 367/20, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

Gründe:

Das Landgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen und der Widerklage im Wesentlichen stattgegeben. Rechtsfehler zeigt die Berufungsbegründung nicht auf.

1. Kein Anspruch der Klägerin in Höhe von 6.600,58 € (Rechnung Nummer 11826393-DE03B vom 28.12.2018, Anl. K4)

a) Mit der genannten Rechnung macht die Klägerin die mit Vertrag vom 15.1.2018 (Anl. K1) vereinbarte jährliche Lizenzgebühr geltend.

b) Diese Gebühr kann die Klägerin nicht verlangen, da die Beklagte mit anwaltlichem Schreiben vom 10.9.2018 (Anl. K8) wirksam fristlos gekündigt hat.- 

aa) Die zeitlich begrenzte entgeltliche Überlassung von Standardsoftware (wie vorliegend) ist als Mietvertrag zu beurteilen (BGH, Urteil vom 15.11.2006, XII ZR 120/04, Rn. 13 ff). Aus den Regelungen des Vertrags vom 15.1.2018 (K1) geht hervor, dass auch die Parteien den mietrechtlichen Charakter des zwischen ihnen begründeten Dauerschuldverhältnisses erkannten und wollten, so heißt es unter Ziff. 2. (Die Lizenz) „… ohne das Recht zur Untervermietung…“ (Anl. K1, S. 2 unten links) und unter Ziff. 5 (Gewährleistung) (b) (ii) „…Kündigung des Vertrags wegen Nichtgewährung des vertragsmäßi gen Gebrauchs (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB) geltend machen.“ (Anl. K1, S. 4 linke Spalte Mitte).- – – – 

bb) Zutreffend hat das Landgericht aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens vom 15.2.2021 nebst zweier Ergänzungsgutachten vom 14.7.2021 und 14.9.2021 festgestellt, dass die Beklagte zur fristlosen Kündigung am 10.9.2018 berechtigt war. Aufgrund der bei der Beklagten im Vordergrund stehenden langfristigen Vermietungen stellt es einen wesentlichen Mangel der angebotenen Software dar, dass in der zur Verfügung gestellten Version kein Pauschalpreis für monatsweise Vermietung (unabhängig von der Länge des konkreten Monats) eingestellt werden kann. Diesen Punkt hatte die Beklagte bereits kurz nach Installation der Software und Eröffnung des Hotels ab 1.5.2018 gerügt (E-Mail vom 16.5.2018, Anl. K 11 = B 7b). Ob – wie die Klägerin behauptet – eine entsprechende Anpassung der Software möglich wäre, kann offenbleiben, da auf die Rüge der Beklagten eine solche Anpassung nicht stattgefunden hat, sondern stattdessen mit E-Mail der Klägerin vom 30.5.2018 eine vorzeitige Vertragsbeendigung in Aussicht gestellt (Anl. B5) und mit Schreiben vom 13.8.2018 zum 14.1.2020 bestätigt wurde (Anl. K7). Die Nachbesserung ist damit als fehlgeschlagen iSv. Ziff. 5 (b) (ii) des Vertrags vom 15.1.2018 anzusehen, da die Klägerin bis zum Ausspruch der fristlosen Kündigung hinreichend Gelegenheit hatte, eine entsprechende Anpassung der Software vorzunehmen (vgl. Ziff. 5 (b) (iii) des Vertrags). Einer Fristsetzung bedurfte es ausweislich der vertraglichen Regelung, insbesondere Ziff. 5 (Gewährleistung) (b) (iii) und Ziff. 8 (Laufzeit und Kündigung) (b), ausdrücklich nicht,.Weitere wesentliche Mängel liegen lt. Sachverständigengutachten darin, dass vor dem Check-In eines Gastes keine steuerlich anerkannte Rechnung (mit Mehrwertsteuer) erstellt werden kann, dass eine kalendarische Übersicht über die Buchungen lediglich wochenweise möglich ist, so dass bei typischerweise monatelangen Buchungen entsprechend viele Bildschirmseiten nacheinander aufgerufen werden müssen, und dass zwingend täglich ein Tagesabschluss durchzuführen ist, auch wenn es keine tagweisen Buchungen gab.Soweit die Klägerin unter Ziff. 7 der Berufungsbegründung pauschal „inhaltlich erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Gerichts in Bezug auf das erstellte Gutachten“ rügt, ist dem nicht zu entnehmen, welche Feststellungen genau damit angegriffen werden sollen. Zu dem eingeholten Gutachten nebst Ergänzungsgutachten hatte die Klägerin zuletzt ausdrücklich keine Einwendungen mehr (Schriftsatz KV 15.10.2021, S. 1).

cc) Zu Recht hat das Landgericht die zu dem Inhalt der Vertragsverhandlungen angebotenen Zeugen nicht vernommen. Es kann offenbleiben, ob die Beklagte bereits vor Vertragsschluss ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass sie ein Boardinghaus betreiben möchte, bei dem softwareseitig ein monatlicher Fixpreis, steuerlich einwandfreie Vorabrechnungen sowie monatsweise Kalenderübersichten erwartet werden. Denn sollte eine solche Aufklärung der Erwartungen der Beklagten unterblieben sein, wäre dies der Klägerin zuzurechnen. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, hätte ihr als Spezialist angesichts der von ihr selbst erkannten fehlenden Erfahrung der Beklagten mit einem Buchungsprogrammen oblegen zu klären, welcher Art der Betrieb der Beklagten ist und welche Anforderungen sie an eine hierfür zu verwendende Buchungssoftware hat (vgl. OLG Köln, Urteil vom 6. 3. 1998, 19 U 228/97 unter 4 cc) = NJW-RR 1999, 51 ff (51).).Dabei kommt es entgegen der Rüge der Berufungsbegründung nicht darauf an, ob tatsächlich ein Pflichtenheft hätte erstellt werden müssen, da auch ohne ein solches jedenfalls die Klägerin als (allein) Fachkundige die genannte Aufklärung hätte betreiben müssen. Soweit die Klägerin in der Berufungsbegründung vorträgt, das eine Anhörung der Zeugen ergeben hätte, dass die Beklagte sehr wohl über die Funktionalitäten der Standardsoftware vollumfänglich beraten und aufgeklärt wurde (Ziff. 11 der Berufungsbegründung), ist diese pauschale Behauptung nicht geeignet, eine ausreichende Aufklärung der Anforderungen seitens der Beklagten zu belegen. Vielmehr ergibt sich aus dem eigenen Vortrag der Klägerin (“dass.. die seitens der Beklagten aufgeführten 5 Punkte im Schriftsatz vom 9.8.2019 während der Verhandlungen nie besprochen wurden“), dass der Beklagten gerade nicht offengelegt wurde, dass die Einstellung anderer Preise als „pro Nacht“, die Erstellung von Vorab-Rechnungen mit Mehrwertsteuer und eine Kalenderübersicht über mehr als eine Woche gleichzeitig nicht möglich sein würden.

dd) Soweit die Klägerin rügt, dass das Landgericht ohne Beweisaufnahme vom Betrieb eines Boardinghauses durch die Beklagte ausgegangen sei, kann sie damit nicht gehört werden. Nach den nicht mit einem Tatbestandsberichtigungsantrag angegriffenen, für den Senat verbindlichen Feststellungen des Landgerichts hat die Klägerin zumindest einen Mischbetrieb (Betrieb eines Hotels und Boardinghauses) nicht bestritten (LGU S. 6). Tatsächlich hat die Klägerin sogar mit Schriftsatz vom 25.9.2019, dort S. 3, wörtlich vorgetragen: „Selbstverständlich war der Klägerin bewusst, dass es sich bei der Beklagten um ein Boardinghaus handelt“. Soweit sie in späteren Schriftsätzen bestritten hat, dass die Beklagte ein „reines Boardinghaus“ betreibe und unter Vorlage von Buchungsmasken vorgetragen hat, dass auch eine „nachtweise“ Buchung bei der Beklagten möglich sei, war dieser Vortrag nicht geeignet, die fehlende Geeignetheit der Software unter dem Gesichtspunkt der – nicht bestrittenen – (zumindest auch stattfindenden) längerfristigen Buchungen in Frage zu stellen.

2. Kein Anspruch der Klägerin in Höhe von 14.161- € (Rechnung Nr. 11811064-DE03B vom 31.5.2018, Anl. K5) und 147,- € (Rechnung Nr. 11811235-DE03B vom 15.6.2018, Anl. K6)

a) Mit diesen Rechnungen macht die Klägerin Installations- und damit zusammenhängende Fahrtkosten geltend.

b) Bei der Installation handelt es sich um eine weitere mit Vertrag vom 15.1.2018 vereinbarte Leistung, die dazu führt, dass es sich insgesamt um einen zusammengesetzten Vertrag handelt, bei dem jeder Vertragsteil nach dem Recht des auf ihn zutreffenden Vertragstypus zu beurteilen ist (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2006, XII ZR 120/04, Rn. 21). Auf die Installation als solche sowie der Durchführung von Updates und Datensicherungen ist Werkvertragsrecht anzuwenden. – – 

c) Es kommt jedoch nicht darauf an, ob die Installation als solche mangelhaft ist. Denn diese Leistungen wären nicht angefallen, wenn die Beklagte vor Vertragsschluss darüber aufgeklärt worden wäre, was das angebotene System kann (bzw. nicht kann) und eine Bestellung mithin unterblieben wäre. Es handelt sich damit um unnütze Aufwendungen der Beklagten, welche die Klägerin durch pflichtwidriges Verhalten iSv. §§ 280, 311 Abs. 1 BGB verursacht hat, so dass die Beklagte im Rahmen des ihr zustehenden Schadenersatzanspruchs Befreiung von diesen noch offenen Verbindlichkeiten verlangen kann.- – – – 

3. Anspruch der Beklagten in Höhe von 6.875,61 € nebst Zinsen

a) Es handelt sich (wohl) um die Lizenzgebühr für das erste Jahr.

b) Zwar war dieser Anspruch der Klägerin bereits vor der am 10.9.2018 erklärten fristlosen Kündigung fällig geworden und blieb nach der Regelung in Ziff. 6 (c) des Vertrags vom 15.1.2018 (Anl. K1) grundsätzlich weiter geschuldet. Allerdings gilt insoweit ebenfalls, dass der Beklagten infolge der unterbliebenen Aufklärung ein Schadenersatzanspruch gem. §§ 280, 311 Abs. 2 BGB zusteht, der in diesem Punkt auf Rückgängigmachung des Vertrags und somit Rückerstattung der bereits geleisteten Zahlung gerichtet ist.

Der Senat regt dringend an, die Berufung zurückzunehmen. Im Fall der Rücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 (Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).

posted by Thomas Stadler at 18:04  

9.3.22

Twitter erneut zur Unterlassung einer Account-Sperrung verurteilt

Das Landgericht Dortmund hat Twitter mit Urteil vom 25.02.2022 (17 O 7/21) einmal mehr zur Unterlassung der Sperrung eines Accounts verurteilt.

Hier das Urteil:

In dem einstweiligen Verfügungsverfahren 

der Frau (…)

Verfügungsklägerin, 

Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte SSB Söder Berlinger Rechtsanwälte PartGmbB, Arabellastr. 17, 81925 München, 

gegen 

die Twitter International Company, vertreten durch Laurence O’Brien, Robert O’Shea,, One Cumberland Place, Fenian Street, 0207 Dublin 2, Irland, 

Verfügungsbeklagte, 

Prozessbevollmächtigte (…)

hat die 17. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 25.02.2022 durch den Richter am Landgericht Dr. Wiethoff als Einzelrichter 

beschlossen: 

Die Verfügungsbeklagte hat es zu unterlassen, den Account der Antragstellerin (…) auf twitter.com weg der nachfolgenden Äußerung zu sperren: 2 

„@Cidhappens Ich bin 2x geimpft. Sollen die doch ihren Beamtmungsschlauch kriegen. Bitte ohne Betäubung.“ 

Der Verfügungsbeklagten wird im Fall der Zuwiderhandlung angedroht: 

die Festsetzung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000,00 EUR ersatzweise für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, die Anordnung von Ordnungshaft 

oder 

die Anordnung unmittelbarer Ordnungshaft von bis zu 6 Monaten, bei mehreren oder wiederholten Zuwiderhandlungen bis zu insgesamt zwei Jahren. 

Die Kosten des Verfahrens werden der Verfügungsbeklagten auferlegt. 

Der Verfahrenswert wird auf 6.000,00 EUR festgesetzt. 

Gründe 

I. 

Der Sachverhalt ergibt sich aus der Antragsschrift, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird. 

Die Verfügungsklägerin begehrt die Wiederherstellung ihres Twitter-Accountes, nachdem dieser wegen der aus dem Tenor ersichtlichen Tweets gelöscht worden war. In der Mitteilung der Beklagten von 26.06.2021 (vgl. Blatt 11 der Akte) heißt es: 

„ Hallo (…)

dein Account (…) wurde wegen eines Verstoßes gegen die Twitter Regeln gesperrt….“ 

Sodann nimmt die Verfügungsbeklagte Bezug auf den streitbefangenen Tweet der Beklagten. Auf die weiteren Einzelheiten der Mitteilung wird verwiesen.

Die Verfügungsklägerin beantragt, 

wie erkannt. 

Die Verfügungsbeklagte beantragt, 

den Antrag zurückzuweisen. 

Die Verfügungsbeklagte vertritt unter anderem die Rechtsauffassung, die erfolgte Sperrung sei aufgrund strafrechtlich relevanter Inhalte und auch wegen weiterer zurückliegender Verstöße der Verfügungsklägerin gerechtfertigt. 

II. 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hat in der Sache Erfolg. 

1. Der zulässige Antrag ist begründet, weil die Verfügungsklägerin einen Verfügungsanspruch hat und auch die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforderliche Dringlichkeit vorliegt. 

a) Die Verfügungsklägerin hat gegen die Beklagte gem. § 280 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 249 Abs. 1 BGB einen Anspruch darauf, den am 26.06.2021 gesperrten Account wieder freizuschalten. 

aa) Zwischen den Parteien besteht ein Nutzungsvertrag, in dessen Rahmen die Verfügungsbeklagte die Pflicht hat, der Klägerin die Möglichkeit zu geben, mit anderen Nutzern in Kontakt zu treten und sich mit ihnen auszutauschen. Daraus folgt, dass die Beklagte Beiträge, die die Klägerin in ihr Netzwerk eingestellt hat, nicht grundlos löschen und den Account nicht grundlos sperren darf.

bb) Gegen diese vertragliche Verpflichtung hat die Beklagte durch die Sperrung des Accounts der Verfügungsklägerin schon deshalb verstoßen, weil sie sich nicht an die vom Bundesgerichtshof entwickelten formalen Vorgaben für die Sperrung eines Accounts gehalten hat. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 29.07.2021 der über die zivilrechtlichen Generalklauseln ins Privatrecht ausstrahlenden mittelbaren Werteordnung der Grundrechte im Rahmen einer praktischen Konkordanz insoweit Rechnung getragen, dass vor einer Sperrung die Anhörung des betroffenen Nutzers erforderlich ist (BGH, Urteil vom 29.7.2021 – III ZR 179/20). 

cc) An dieser vorherigen Anhörung fehlt es hier bereits. Eine nachträgliche Überprüfung der Entscheidung mit Neubescheidung nach Anhörung der Verfügungsklägerin liegt ebensowenig vor. 

b) Die Verfügungsbeklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Beklagte in der Vergangenheit andere Verstöße begangen hat, weil sie die Sperrung ausweislich ihrer Mitteilung vom 26.06.2021 „wegen eines Verstoßes“ ausgesprochen hat. Dass der Verfügungsbeklagte in der Mitteilung nur „insbesondere“ auf den streitbefangenen Verstoß Bezug nimmt, ändert an der Bewertung der Kammer nichts, weil diese – selbst verursachten – Unklarheiten zu Lasten der Beklagten gehen. 

c) Soweit die Beklagte einwendet, die Sperrung des Accounts sei rechtmäßig, weil der Inhalt des Tweets strafrechtliche Relevanz habe, ändert auch dieser Einwand an der Einschätzung der Kammer nichts. Denn hier geht es nicht um die Frage der Lösung eines Tweet mit – etwaig – strafrechtlich relevantem Inhalt, sondern um die Sperrung des Accounts, so dass – auch – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine vorherige Anhörung sachgerecht und erforderlich gewesen wäre.

2. Auch der Verfügungsgrund liegt vor. Mit Blick auf die mit der Sperrung einhergehenden Einschränkung der Meinungsfreiheit ist ein Zuwarten bis zum Abschluss eines Hauptsachverfahrens mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Dies gilt im hiesigen Verfahren jedenfalls deshalb, weil allein durch die Notwendigkeit mehrerer Zustellversuche bei der Beklagte mehr als 4 Monate verstrichen sind. Vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG stellt die begehrte Leistungsverfügung auch keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dar (OLG München, Beschluss vom 24.8.2018 – 18 W 1294/18). 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. 

Die Wertfestsetzung hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 53 Abs. 1 GKG, 3 ZPO. 

(Hinweis: Das Urteil stammt aus meiner eigenen Sachbearbeitung. Unsere Kanzlei hat die Antragstellerin vertreten.)

posted by Thomas Stadler at 14:47  

4.2.22

Ist Hass keine Meinung? Eine Anmerkung zum Künast-Beschluss des BVerfG

Der Fall hatte große mediale Aufmerksamkeit erregt. Die Grünen-Politikerin Renate Künast ist via Facebook massiv beschimpft worden, die 22 Einzeläußerungen, die die Politikerin beanstandet, sind im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 2021 (Az.: 1 BvR 1073/20) unter Randziffer 7 – unter Auslassung der derbsten Beleidigungen – wörtlich wiedergegeben. Renate Künast hat im Anschluss versucht, gestützt auf § 14 Abs. 3 TMG (alte Fassung), beim Landgericht Berlin zu erwirken, dass Facebook Auskunft über die Verfasser der Postings erteilen muss. Das Landgericht Berlin hat den Antrag zunächst vollständig zurückgewiesen, weil es bei sämtlichen 22 Äußerungen der Ansicht war, dass die Meinungsfreiheit überwiegt. Auf die Beschwerde Künasts hin, hat das Landgericht seine Entscheidung selbst abgeändert und eine Auskunft im Hinblick auf sechs Postings verfügt. Diese Entscheidung hat das Kammergericht teilweise aufgehoben und eine Beauskunftung im Bezug auf weitere fünf Äußerungen angeordnet. Aber auch das Kammergericht hielt noch insgesamt elf Postings für äußerungsrechtlich zulässig.

Auf die Verfassungsbeschwerde von Künast hat das BVerfG jetzt die Entscheidung des Kammgerichts vollständig aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das KG zurückverwiesen.

Im Kern beanstandet das Bundesverfassungsgericht, dass sich das Kammgericht auf die Frage beschränkt, ob eine sog. Schmähkritik vorliegt und anschließend, nachdem die Schmähkritik verneint wurde, keinerlei Abwägung zwischen Meinungsfreiheit einerseits und Persönlichkeitsrecht andererseits mehr vornimmt.

Das BVerfG führt dazu u.a. aus:

Im Ausgangspunkt zutreffend erkennt das Kammergericht, dass es sich bei den noch verfahrensgegenständlichen Bezeichnungen der Beschwerdeführerin um erheblich ehrenrührige Herabsetzungen handelt. Der von ihm formulierte Obersatz, es liege kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung (Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik) vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin erreiche nicht ein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des konkret zu berücksichtigenden Kontextes lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Antragstellerin erscheinen, belegt indes, dass das Kammergericht unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts davon ausgeht, eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB liege aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann vor, wenn die streitgegenständliche Äußerung „lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung“ zu verstehen sei. 4

aa) Dieses Fehlverständnis hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Beleidigungstatbestands setzt sich bei den Ausführungen des Fachgerichts zur Äußerung „Pädophilen-Trulla“ fort. 4

(1) Zwar deutet das Kammergericht die Notwendigkeit einer Abwägung an, wenn es feststellt, dass wegen der widerstreitenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen die persönlichkeitsrechtlichen Belange der Nutzer gegeneinander abzuwägen seien. Verfassungsrechtlich fehlerhaft knüpft es die Voraussetzungen der Beleidigung sodann aber an die Sonderform der Schmähkritik an. Es stellt entscheidend darauf ab, die strengen Voraussetzungen, die nach dem oben Gesagten an eine Schmähkritik und einen Wertungsexzess zu stellen seien, lägen nicht vor, weil die auf die Einstellung und geistige Verfassung der Beschwerdeführerin bezogenen Kommentare noch einen hinreichenden Bezug zur Sachdebatte aufwiesen, im Rahmen derer die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer damaligen Äußerung in den Fokus geraten sei. Die angekündigte Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin nimmt das Kammergericht in der Folge aber nicht vor.


Der Beschluss des BVerfG bedeutet allerdings nicht, dass damit die Entscheidung des Kammergerichts zwingend vorgezeichnet ist.

Denn im Ausgangspunkt muss man sehen, dass die jetzt noch in Rede stehenden Äußerungen allesamt in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen und das Kammergericht nun etwas sauberer für jede einzelne Äußerung abwägen muss, ob das Persönlichkeitsrecht von Künast in jedem einzelnen Fall überwiegt.

In diese Abwägung wird einzustellen sein, dass es sich bei Frau Künast um eine Politikerin handelt und sich Politiker nach der Rechtsprechung von EGMR und BVerfG im öffentlichen Meinungskampf verbal mehr als andere auch sehr scharfe Äußerungen gefallen lassen müssen. Diesen Punkt erörtert das BVerfG in seinem Beschluss unter dem Schlagwort „Machtkritik“. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Frau Künast letztlich nur in ihrer Sozialsphäre betroffen ist. Denn Hintergrund war die wiederaufkommende Debatte über die Haltung der Grünen zu Pädophile in den 80’er Jahren und ein Zwischenruf von Renate Künast im Berliner Abgeordnetenhaus und damit ihre politische Tätigkeit und ihr öffentliches Wirken. Allerdings wird dennoch zu fragen sein, inwieweit für die Äußerungen ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand. Auch die Eingriffsintensität der einzelnen Äußerungen, die maßgeblich von der konkreten Wortwahl abhängt und die hier durchaus unterschiedlich hoch ist, ist von Bedeutung.

Das Problem der Entscheidung des Kammergerichts ist vor allem die fehlende Differenzierung. Die Berliner Richter haben überhaupt nur zwei Aussagen konkret bewertet, ohne die vom BVerfG geforderte Abwägung vorzunehmen und in Bezug auf die restlichen Äußerungen nur ergänzt, dass für sie dasselbe gelten soll.

Es ist also nicht auszuschließen, dass einige der Aussagen vom Kammgericht auch weiterhin nicht als strafrechtliche Beleidigung bewertet werden. Dies dürfte insbesondere die Aussagen betreffen, die aufgrund ihrer Wortwahl schon eine eher geringe Eingriffsintensität aufweisen, wie beispielsweise „Die sind alle so krank im Kopf“

„Hass ist keine Meinung“ schrieb Renate Künast als Reaktion auf ihre erfolgreiche Verfassungsbeschwerde auf Twitter. Das klingt griffig, ist es aber in rechtlicher Hinsicht nicht. Alle Einzeläußerungen, die Gegenstand der Verfassungsbeschwerde waren, fallen in den Schutzbereich von Art. 5 GG und müssen gegen das Persönlichkeitsrecht von Frau Künast abgewogen werden. Das Ergebnis dieser Abwägung hat das BVerfG aber nicht vorgegeben, eine klare „Segelanweisung“, wie das Kammergericht im Ergebnis zu entscheiden hat, enthält der Beschluss nicht.

Man darf also durchaus gespannt sein, wie das KG mit der Vorgabe aus Karlsruhe umgehen wird.

posted by Thomas Stadler at 16:57  

22.12.21

BVerfG zur Frage, ob man Xavier Naidoo einen Antisemiten nennen darf

Wenn man dem Rauschen im digitalen Blätterwald glauben darf, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Xavier Naidoo, ein Popstar mit merkwürdigen politischen Ansichten, als Antisemit bezeichnet werden darf.

Auch wenn das BVerfG das so nicht entschieden, sondern nur Urteile des OLG Nürnberg und des Landgerichts Regensburg aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen hat, kann man diese Schlussfolgerung aus dem Beschluss des BVerfG vom 11.11.2021 (Az.: 1 BvR 11/20) durchaus ziehen.

Die Beschwerdeführerin hatte als Fachreferentin einer Stiftung im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifika“ gehalten und hierbei über Naidoo folgendes gesagt:

Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.

Das Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die Beschwerdeführerin zur Unterlassung der Aussage verurteilt, auf die Verfassungsbeschwerde der Referentin hin, hat das Bundesverfassungsgericht diese Urteile jetzt wegen Verletzung der Meinungsfreiheit aufgehoben.

Das Verfassungsgericht stellt im Kern darauf ab, dass die Zivilgerichte die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf verkannt haben.

Das BVerfG führt dazu insbesondere aus:

Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert – namentlich ob der Kläger als bekannter Sänger in seinen Liedtexten und durch seine Äußerungen antisemitische Klischees und Ressentiments bedient. Auch eine überspitzte Meinungsäußerung unterliegt der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung der Äußernden (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 – 1 BvR 2844/13 -, Rn. 24). Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 – 1 BvR 2844/13 -, Rn. 25).

Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 -, Rn. 25). Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein. Gegen die Meinung der Beschwerdeführerin könnte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im Meinungskampf seinerseits wieder öffentlich zur Wehr setzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2012 – 1 BvR 2979/10 -, Rn. 35 mit Verweis auf BVerfGE 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. April 1999 – 1 BvR 2126/93 -, NJW 1999, S. 2358).

Die Ausführungen des BVerfG sind deutlich und stellen zentral auf zwei Aspekte ab. Die Beschwerdeführerin erörtert eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage und Naidoo hat mit seinen Texten und seinem Verhalten im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben, weshalb er eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen muss, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.

Die Aussage, es sei strukturell nachweisbar, dass Naidoo Antisemit ist, hat das Gericht übrigens nicht als Tatsachenbehauptung angesehen, sondern als Werturteil, weshalb es auch nicht auf die Frage der Beweisbarkeit ankommt.

Angesichts der Deutlichkeit der Ausführungen des höchsten deutschen Gerichts, wird das Landgericht kaum erneut verurteilen können.

Die Entscheidung des BVerfG stellt einen großen Sieg der Meinungsfreiheit dar und ich könnte mir vorstellen, dass Danger Dan, der in dem vielleicht meistdiskutierten Song des Jahres Jürgen Elsässer einen Antisemiten genannt hatte, heute wieder mal einen Sekt öffnet.

posted by Thomas Stadler at 18:14  

16.12.21

Telegram: Welche Maßnahmen kann der Staat ergreifen?

Die Forderung nach einer Regulierung des Messengerdienstes Telegram ist derzeit in aller Munde. Der neue Justizminister Buschmann hält ein staatliches Vorgehen gegen Telegram auf Grundlage des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) für möglich. Adressat des NetzDG sind nach der Regelung in § 1 Abs. 1 S. 1 aber nur sog. soziale Netzwerke. Das Gesetz definiert sie als

Telemediendiensteanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben, die dazu bestimmt sind, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen (soziale Netzwerke).

Demgegenüber nimmt das NetzDG in § 1 Abs. 1 S. 3

 Plattformen, die zur Individualkommunikation oder zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind

ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Gesetzes aus.

Hier zeigt sich schon der erste Schwachpunkt der gesetzlichen Regelung, denn wie multifunktionale Dienste einzuordnen sind, bleibt unklar. Wenn man Telegram im Sinne einer Entweder-Oder-Logik nur als soziales Netzwerk oder als einen zur Individualkommunikation bestimmten Dienst betrachten kann, ist die Zuordnung eindeutig. Messengerdienste dienen vorrangig der Individualkommunikation und sind keine sozialen Netze.

In der Diskussion wird nun aber häufiger die Ansicht vertreten, man müsse Teildienste wie Gruppen oder Channels als (eigene) soziale Netzwerke qualifizieren. An dieser Stelle erscheint zunächst aber etwas mehr Differenzierung nötig. Channels, die keine Interaktion der Nutzer ermöglichen, sondern nur wie ein Nachrichtenkanal (Des-) Informationen lediglich ausspielen, sind keine sozialen Netze. Bei Gruppen kommt es darauf an, ob die Gruppe für jedermann offen ist und jeder Nutzer nach einem Betritt zur Gruppe auch sämtliche Inhalte aufrufen und mit anderen Nutzern interagieren kann. Geschlossene Nutzergruppen wird man demgegenüber kaum als soziale Netze einstufen können.

Wenn man also offene und für jedermann zugängliche Telegramgruppen als soziale Netzwerke betrachten möchte, ist die nächste Frage, wer der Anbieter solcher sozialer Medien ist. Denn die Entscheidung darüber, überhaupt eine Gruppe zu eröffnen und diese Gruppe für jeden beliebigen Nutzer zugänglich zu machen, trifft nicht Telegram, sondern der Admin/Owner der Gruppe. Deshalb wird man auch nur den Owner der Gruppe als Anbieter des sozialen Netzwerks Gruppe sehen können, während Telegram lediglich die technische Plattform bietet.

An diese Erkenntnis schließt sich dann allerdings ein weiterer Problempunkt an. Denn das NetzDG gilt nur für Telemediendiensteanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben. Und das wird auf den Owner einer Gruppe zumeist nicht zutreffen. Darüber hinaus, sind soziale Netzwerke mit weniger als zwei Millionen Nutzern im Inland nach § 1 Abs. 2 NetzDG von den wesentlichen gesetzlichen Pflichten befreit. Die Nutzeranzahl der Telegramgruppen ist aber auf 200.000 begrenzt, so dass die gesetzliche Grenze nicht überschritten wird.

Es zeigt sich also, dass das NetzDG aus verschiedenen Gründen keine geeignete Grundlage für ein Vorgehen gegen Telegram bietet. Die Aussage von Justizminister Marco Buschmann, wonach das NetzDG keine pauschalen Ausnahmen für Messenger-Dienste wie Telegram kennen würde, erweist sich also als unzutreffend.

Erfolgsversprechender erscheint ein Rückgriff auf die gute alte Störerhaftung. Es entspricht gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass Intermediäre wie Hoster, die fremde Inhalte zum Abruf bereithalten einer eingeschränkten Haftung unterliegen, sofern sie zumutbare Prüfpflichten verletzt haben. Das setzt insbesondere voraus, dass ein solcher Anbieter über einen konkreten rechtswidrigen Inhalt in Kenntnis gesetzt wird und anschließend untätig bleibt. In solchen Fällen hat die Rechtsprechung des BGH, beginnend mit der Entscheidung Blogpost, einen Prüfprozess entwickelt, den der BGH in weiteren Entscheidungen zu Bewertungsportalen wie Jameda immer weiter ausdifferenziert hat.

Danach könnte Telegram also, auf konkreten Hinweis hin verpflichtet sein, rechtswidrige Inhalte zu entfernen.

Ob der Ansatz, auf Apple und Google einzuwirken, um Telegram aus den Appstores zu nehmen, einen rechtlich gangbaren Weg darstellt, erscheint zumindest auf den ersten Blick fraglich. Denn bei Telegram handelt es es sich in jedem Fall um einen legalen und legitimen Messengerdienst, dessen komplette Verbannung wegen einzelner rechtswidriger Inhalte in Gruppen nicht gerechtfertigt erscheint. Dies kann allenfalls ultima ratio sein, wenn alle anderen denkbaren Mittel und Wege auf Telegram mit Blick auf die Löschung rechtswidriger Inhalte, erfolglos geblieben sind.

posted by Thomas Stadler at 18:25  

26.11.21

EuGH zum sog. Inbox-Advertising

Speziell die Nutzer von kostenlosen E-Mail-Diensten wie GMX kennen das Phänomen. In seiner Inbox findet man immer wieder Werbeanzeigen, die wie E-Mails aussehen, bei denen es sich aber um bezahlte Werbeanzeigen handelt, die einem vom Freemailer direkt in die Inbox gepusht werden.

Der EuGH hat hierzu jetzt entschieden (Urteil vom 25.11.2021, Az.: C‑102/20), dass dieses Inbox-Advertising nur unter der Voraussetzung gestattet ist, dass der Nutzer klar und präzise über die Modalitäten der Verbreitung solcher Werbung informiert wurde und seine Einwilligung, solche Werbenachrichten zu erhalten, für den konkreten Fall und in voller Kenntnis der Sachlage bekundet hat.

Ohne eine ausreichende Einwilligung liegt folglich eine unzulässige Werbe-E-Mail vor.

Eine solche Einwilligung des Nutzers wird der Mail-Provider freilich kaum wirksam einholen können. Denn eine Werbeeinwilligung muss sich immer auf ein bestimmtes (werbendes) Unternehmen beziehen und auf konkret bezeichnete Waren- und Dienstleistungen. Das Geschäftsmodell des Mail-Providers besteht aber gerade darin, diese „Werbeflächen“ beliebigen Unternehmen anzubieten.

posted by Thomas Stadler at 16:48  

22.11.21

Würde eine Impfpflicht Grundrechte verletzen?

Das Diskussionsthema der Stunde ist die Einführung einer berufsspezifischen oder gar generellen Pflicht, sich gegen das Corona-Virus impfen zu lassen.

In der Diskussion hört man häufiger die Ansicht, eine Impfpflicht sei verfassungsrechtlich problematisch. Was ist davon zu halten? Es gibt nationale Entscheidungen des BVerfG und des BVerwG und aktuelle Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die deutlich machen, dass weder eine allgemeine noch eine berufsspezifische Impfpflicht aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen ist. Das BVerwG hatte bereits im Jahre 1959 einen Zwang sich gegen Pocken impfen zu lassen, unbeanstandet gelassen und insoweit einen recht großzügigen Maßstab angelegt:

Die Vereinbarkeit des Impfzwanges mit dem Grundgesetz ist zu bejahen. Die Impfung stellt zwar einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Er fällt jedoch unter den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG. Der Wesensgehalt des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit wird nicht durch einen Eingriff angetastet dessen Zielsetzung gerade die Erhaltung der Unversehrtheit ist. Auch im Parlamentarischen Rat war man sich bei der Schaffung dieses Grundrechts darüber einig, daß der Impfzwang ihm nicht widerspricht (vgl. Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 1 S. 60). Im übrigen sind dem Gericht bei der Prüfung der Frage, ob das Impfgesetz ein erforderliches Mittel zur Bekämpfung der Pockenseuche ist, enge Grenzen gezogen. Es handelt sich bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 nicht wie bei Art. 12 um ein Grundrecht, das in sich Bereiche schwächeren und stärkeren Freiheitsschutzes enthält und bei dem nach den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 11. Juni 1958 (BVerfGE 7, 377 [409]) entwickelten Grundsätzen im Falle eines Eingriffs des Gesetzgebers jedesmal geprüft werden muß, ob gesetzliche Maßnahmen auf den vorausliegenden Stufen nicht ausgereicht hätten ob also der tatsächliche Eingriff „zwingend geboten“ war. Bei einem Grundrecht, das in sich keine abgestuften Schutzbereiche enthält, ist der Gesetzgeber in der Wahl seiner Mittel freier gestellt. Erst die eindeutige Unangemessenheit der gesetzlichen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden soll führt hier zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit (BVerfGE 2, 266 [280/281]). Die Frage, ob die vom Impfgesetz getroffene Regelung eindeutig unangemessen und ungeeignet zur Bekämpfung der Pockenseuche ist, kann aber nur in verneinendem Sinn beantwortet werden.

Nach Ansicht des BVerwG ist eine Impfpflicht auf gesetzlicher Grundlage in grundrechtlicher Hinsicht nur dann zu beanstanden, wenn sie eindeutig ungeeignet und unangemessen wäre.

Das BVerfG hat sich im Jahr 2020, allerdings nur im Rahmen einer Eilentscheidung mit der aktuellen Masernimpfpflicht, die eine Zugangsvoraussetzung zu Kindertagesstätten schafft, befasst und es abgelehnt, die entsprechenden Regelungen des Infektionsschutzgesetzes außer Kraft zu setzen. Auch wenn hier die Hauptsachenentscheidung über die Verfassungsbeschwerde noch aussteht, betont das BVerfG die Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger und den legitimen Zweck der Impfung, die Weiterverbreitung der Krankheit zu verhindern:

Impfungen gegen Masern in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen sollen nicht nur das Individuum gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, wenn mit Hilfe der Maßnahmen erreicht wird, dass die Impfquote in der Bevölkerung hoch genug ist. Auf diese Weise könnten auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe bei einer Infektion drohen. Ziel des Masernschutzgesetzes ist namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell auch kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angehalten ist (vgl. BVerfGE 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>).

Den Aspekt der Schutzpflicht, die den Staat dazu anhält, die Gesundheit und das Leben seiner Bürger zu schützen, sollte man auch in der aktuellen Diskussion nicht unterschätzen. Denn am Ende kann man daraus u.U. sogar den Auftrag des Grundgesetzes an den Gesetzgeber ableiten, in der aktuellen Situation eine Corona-Impfpflicht zu schaffen. Denn es geht nicht nur darum, die Pandemie zu bekämpfen, sondern auch darum, zu gewährleisten, dass jeder der eine ärztliche Behandlung in einem Krankenhaus benötigt, diese auch bekommt.

Nicht minder interessant sind aktuelle Entscheidungen des EGMR. In einer Hauptsacheentscheidung vom 08.04.2021 sieht der EGMR in einer Impfpflicht für Kinder als Voraussetzung dafür, den Kindergarten zu besuchen, keinen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention und betont ähnlich wie schon einst das BVerwG einen weiten „margin of appreciation„.

In einer Entscheidung vom 09.09.2021 hat es der EGMR zudem abgelehnt, die Corona-Impfpflicht für Gesundheitspersonal in Griechenland vorübergehend auszusetzen.

Es gibt also bislang wenig Anhaltspunkte für die These, eine deutsche Coronaimpfpflicht auf gesetzlicher Grundlage, könnte in Karlsruhe scheitern oder vom EGMR beanstandet werden.

Möglicherweise wäre eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen verfassungsrechtlich sogar problematischer als eine allgemeine Impfpflicht. Denn die Ungleichbehandlung bestimmter Berufsgruppen, denen man damit ja etwas abverlangt, das den Rest der Bevölkerung nicht trifft, bedarf eines ausreichenden sachlichen Grundes. Und sie bleibt natürlich im Vergleich zu einer generellen Impfpflicht in ihrer Wirkung überschaubar.

Impfpflicht sollte übrigens nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Staat körperlichen Zwang anwendet, um die Impfung durchzusetzen. Vielmehr wird man einerseits Ungeeimpfte im Sinne einer strikten 2G-Logik vom Zugang zum sozialen und beruflichen Leben ausschließen und andererseits den Verstoß gegen die Impfpflicht als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld belegen.

Das Grundgesetz verbietet eine generelle Impflicht also nicht, zumindest nicht grundsätzlich.

posted by Thomas Stadler at 22:47  
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