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Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

22.12.21

BVerfG zur Frage, ob man Xavier Naidoo einen Antisemiten nennen darf

Wenn man dem Rauschen im digitalen Blätterwald glauben darf, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Xavier Naidoo, ein Popstar mit merkwürdigen politischen Ansichten, als Antisemit bezeichnet werden darf.

Auch wenn das BVerfG das so nicht entschieden, sondern nur Urteile des OLG Nürnberg und des Landgerichts Regensburg aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen hat, kann man diese Schlussfolgerung aus dem Beschluss des BVerfG vom 11.11.2021 (Az.: 1 BvR 11/20) durchaus ziehen.

Die Beschwerdeführerin hatte als Fachreferentin einer Stiftung im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifika“ gehalten und hierbei über Naidoo folgendes gesagt:

Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.

Das Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die Beschwerdeführerin zur Unterlassung der Aussage verurteilt, auf die Verfassungsbeschwerde der Referentin hin, hat das Bundesverfassungsgericht diese Urteile jetzt wegen Verletzung der Meinungsfreiheit aufgehoben.

Das Verfassungsgericht stellt im Kern darauf ab, dass die Zivilgerichte die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf verkannt haben.

Das BVerfG führt dazu insbesondere aus:

Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert – namentlich ob der Kläger als bekannter Sänger in seinen Liedtexten und durch seine Äußerungen antisemitische Klischees und Ressentiments bedient. Auch eine überspitzte Meinungsäußerung unterliegt der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung der Äußernden (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 – 1 BvR 2844/13 -, Rn. 24). Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 – 1 BvR 2844/13 -, Rn. 25).

Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 -, Rn. 25). Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein. Gegen die Meinung der Beschwerdeführerin könnte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im Meinungskampf seinerseits wieder öffentlich zur Wehr setzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2012 – 1 BvR 2979/10 -, Rn. 35 mit Verweis auf BVerfGE 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. April 1999 – 1 BvR 2126/93 -, NJW 1999, S. 2358).

Die Ausführungen des BVerfG sind deutlich und stellen zentral auf zwei Aspekte ab. Die Beschwerdeführerin erörtert eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage und Naidoo hat mit seinen Texten und seinem Verhalten im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben, weshalb er eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen muss, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.

Die Aussage, es sei strukturell nachweisbar, dass Naidoo Antisemit ist, hat das Gericht übrigens nicht als Tatsachenbehauptung angesehen, sondern als Werturteil, weshalb es auch nicht auf die Frage der Beweisbarkeit ankommt.

Angesichts der Deutlichkeit der Ausführungen des höchsten deutschen Gerichts, wird das Landgericht kaum erneut verurteilen können.

Die Entscheidung des BVerfG stellt einen großen Sieg der Meinungsfreiheit dar und ich könnte mir vorstellen, dass Danger Dan, der in dem vielleicht meistdiskutierten Song des Jahres Jürgen Elsässer einen Antisemiten genannt hatte, heute wieder mal einen Sekt öffnet.

posted by Thomas Stadler at 18:14  

2 Comments

  1. Nur zum Verständnis: Wenn ein Urteil aufgehoben wird, ist es doch nicht mehr existent und der juristische Status Quo in dieser Frage ist wieder auf einen Zeitpunkt vor der Verkündung des Urteils zurückgesetzt?

    Das heißt doch auch, das man X.N. einen Antisemiten nennen darf, bis ein Gericht etwas anderes entscheidet?

    Comment by Heiko — 22.12, 2021 @ 22:04

  2. Zitat:

    Die Aussage, es sei strukturell nachweisbar, dass Naidoo Antisemit ist, hat das Gericht übrigens nicht als Tatsachenbehauptung angesehen, sondern als Werturteil, weshalb es auch nicht auf die Frage der Beweisbarkeit ankommt.

    Zitaende.

    Das halte ich für willkürlich und inakzeptabel. Wenn jemand sagt, etwas sei nachweisbar, dann muss es auch nachweisbar sein. Wo beginnt denn bitte eine Tatsachenbehauptung, wenn ‚xy ist nachweisbar‘ keine Tatsachenbehauptung sein soll?

    Den Fall selbst sehe ich entspannt: natürlich darf man jeden ‚Antisemiten‘ nennen, sollte dann aber auch einen Kontext schaffen, der die Aussage begründet oder gar belegt, sodass der Begriff nicht als Beleidigung oder persönlichen Angriff genutzt wird, sondern weil es zumindest grob stimmt und man sich wenigstens minimal Mühe gemacht hat, das zu begründen. Das nicht jeder die Begründung stichhaltig findet: geschenkt. Den Versuch schon zu unterlassen finde ich aber völlig inakzeptabel.

    Man kann entweder ein kurzes Zitat nennen oder auf eine (verlinkte und sinnvolle) Quelle Bezug nehmen.

    Das Problem beim heutigen Journalismus:
    Quellenangaben und Begründungen werden so gut wie nie genannt:

    Journalismusdarsteller A stellt eine wahnwitzige Behauptung auf, Journalismusdarsteller B verbreitet die Behauptung dann weiter. Aber nach der 10. dummen und unnötigen Wiederholung der (falschen) Behauptung in Klatschblättern landet das dann bei Wikipedia und ab da kopiert es dann jeder. Von da an ist die wahnwitzige Behauptung „Fakt“.
    Das ist völlig geisteskrank. So darf Journalismus nicht funktionieren.

    Ich würde mir daher mehr Sorgfalt wünschen. Auch beim BVerfG.
    Denn nach der Urteilsbegründung bin ich nun verwirrt, was überhaupt noch eine Tatsachenbehauptung sein könnte?!

    Comment by masu — 29.01, 2022 @ 09:38

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