Internet-Law

Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0

5.5.12

Auch eine massive Rasterfahndung trug nicht zur Aufklärung der NSU-Morde bei

Die Süddeutsche Zeitung berichtet unter dem Titel „Neben der Spur“ in ihrer heutigen Ausgabe (SZ vom 5./6. Mai 2012, S. 8 f.) über die „Anatomie eines Staatsversagens“ bei der Aufklärung der Morde des sog. „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und stützt sich dabei u.a. auf interne Unterlagen der Sonderkommission „Bosporus“, die der Zeitung vorliegen sollen.

In dem Artikel heißt es auch, die Ermittler hätten 32 Millionen (!) Handy-, Bank- und Autovermietungsdaten erhoben. Zusätzlich seien 900 000 Haftdaten, 300 000 Hoteldaten und 100 000 Verkehrsdaten eingeholt worden.

Ein Umstand, der aus bürgerrechtlicher Sicht einerseits erschreckend ist, andererseits aber zeigt, dass die Bedeutung technischer Maßnahmen häufig überschätzt wird. Das Scheitern der Ermittlungen der SOKO „Bosporus“ – allein die Bezeichnung zeigt die falsche Weichenstellung bereits auf – war auf Mängel bei der klassischen Polizeiarbeit und auf eine unzureichende Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Landes- und Bundesbehörden zurückzuführen.

Man hört in letzter Zeit leider immer häufiger, dass die klassische kriminalistische Arbeit bei der Polizei immer stärker in den Hintergrund tritt und auch nicht mehr so intensiv geschult wird wie in früheren Jahren. Stattdessen verlegt man sich mehr und mehr darauf, mit technischen Mitteln Daten zu erheben bzw. vorhandene Daten aus verschiedensten Datenbanken abzufragen und zu kombinieren.

Möglicherweise ist es also wichtiger, sich auf die klassische kriminalistische Arbeit zu besinnen, als nach immer neuen technischen Befugnissen zu rufen. Vernünftige Polizeiarbeit ist auch bürgerrechtsfreundlich möglich. Wenn es aber an einer solchen soliden Polizeiarbeit fehlt, helfen technische Überwachungsbefugnisse zumeist auch nicht weiter, wie die Morde der sog. „NSU“ zeigen.

posted by Stadler at 15:39  

11 Comments

  1. Danke für den Beitrag!

    Das Bild des Versagens von Polizei und Geheimdiensten wird in der Tat nur noch katastrophaler, wenn man sich die offenbar recht ziellose „Verwurstung“ von Daten anschaut, die dort betrieben wurde.

    Wenn es schon bei ganz grundlegenden kriminalistischen Hausaufgaben, wie der Erstellung eines passenden Täterprofils, mangelt, liegt auch irgendwie nahe, dass das mit dem Hindurchjagen von möglichst vielen Daten durch die Polizeirechner rein garnichts bringen konnte.

    Es muss eigentlich auch einleuchten, dass klassische kriminalistische Arbeit immer einen wichtigeren Stellenwert gegenüber der Datenerhebung mit technischen Mitteln haben muss, weil letztere a priori nicht in die totale Überwachung aller Bürger münden darf, sondern vielmehr lediglich punktuell und an sehr enge Fragestellungen geknüpft eingesetzt werden sollte.

    Im Rahmen der NSU-Affäre muss daher meines Erachtens mit Blick auf den falschen bzw. mangelhaft vorbereiteten Einsatz von Mitteln der Rasterfahndung auch die Frage nach einem Mißbrauch von Ermittlungsmethoden gestellt werden.

    Comment by thelepathy (@thelepathy) — 5.05, 2012 @ 16:48

  2. Seit vielen Jahrzehnten wird die technische Rasterfahndung völlig überschätzt. Schon Horst Herold, SPD, der von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamtes war, hat die Rasterfahndung als Heilslehre fern der Realität als Maßnahme der Sozialhygiene gepriesen, die es der Polizei (bei Serientätern) ermöglichen sollte, vor dem Täter am Tatort zu sein. Diese Spinnerei mit marginalem Erfolg hat dazu geführt, dass in konventionellen Bereichen des BKAs geschlampt wurde. Hans-Martin-Schleyer musste sterben, weil Herold sein Amt so schlampig geführt hat, dass ein Hinweis aus der Bevölkerung auf den Aufenthaltsort in dem Kölner Hochhaus nicht durch den Meldeweg kam.

    Wir sehen bei der NSU das gleiche Muster: wie religiöse Eiferer in der Inquisition rennen Politiker und Polizei hinter der Totalüberwachung, fordern eine Vorratsdatenspeicherung, wo der nicht beschuldigte Bürger schon vor möglichen Taten erfasst und gespeichert werden soll. Mit Geifer im Maul redet sich der rechte Rand den Mund fusselig, um den Polizeistaat zu etablieren, labert von Terror, den es bei uns kaum gibt, aber unterstützt gleichzeitig noch Mörder bei Serienmorden und verschleiert die Täter durch werfen von Nebelbomben und Besorgen falscher Identitäten.

    Was mich aber am meisten ärgert, ist die Brutalität, mit der der rechte Rand sich weigert, die furchtbare Nutzlosigkeit seiner Vollüberwachung zu evaluieren. Mit panischer Angst vermeidet man jede Transparenz, erklärt alles als geheim, erzählt uns aus der CDU, man müsse dringend mit Steuergelder und IMs die NPD unterstützen und will in Bayern Hitlers Mein Kampf gleich noch als Schulbuch herausgeben, nachdem man sich Jahrzehnte lang geweigert hatte, preiszugeben, womit sich Millionen Deutsche zu Massenmorden an Russen (25 Mio.) und Juden (6 Mio.) haben hinreißen lassen.

    Das einzige tatsächlich Ergebnis, das der rechte Rand mit seinem Ruf nach dem Polizeistaat tatsächlich erreicht, ist dass der Bürger dem Staat immer mehr misstraut. So bereiten Spinner wie Herold und andere Rechtsaußen erst den Grünen das Feld und dann den Piraten. Sie tragen mit ihrem schäumenden Geifer den bürgerlichen Rechtsstaat zu Grabe und stehen als Mittäter der braunen Massenmörder von der NSU mit am Pranger.

    Ohne Mut zur Transparenz und Evaluation der Methoden wird das nichts. Da sind die Piraten schneller auf 50% als der Polizeistaat vollständig mit Rasterfahndung, ACTA, BKA-Trojaner, Schulbuchtrojaner, Handygate usw. errichtet.

    Comment by Wolfgang Ksoll — 5.05, 2012 @ 17:18

  3. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sehr viele der Entscheidungsträger – und wohl immer mehr Polizisten – TV-Serien wie NCIS für Dokumentarreihen halten. Wenn da einer [klar, der Drehbuchschreiber] nicht weiter weiß, wird halt mal schnell eine Computerrasterfahndung gemacht und in weniger als 5 Sekunden hat man bisher unbekannte Verdächtige, deren Bewegungsprofile, Kontobewegungen und und und. Müssen halt nur noch im Verhörraum angeschrien, bedroht und sogar milde körperlich angegangen werden.

    Natürlich sind die dort gezeigten Methoden weder praktikabel noch zielführend oder bürgerrechtlich vertretbar. Aber das interessiert ja nicht, Hauptsache der eigenen Schreibtischjob kann irgendwie cool aufgewertet werden.

    Comment by Dierk — 5.05, 2012 @ 18:54

  4. Was den Befürwortern der technischen Maßnahmen (Abfrage von Datenbanken, aber auch anderen Maßnahmen) scheinbar nicht klar ist: Wenn sich die moderne Polizeiarbeit verstärkt auf diese Maßnahmen stützt, so werden sich die professionellen Täter entsprechend ausrichten und alles so gut es geht vermeiden. Seit Fingerabdrücke als Beweismittel verwendet werden, benutzten die Täter Handschuhe. Erfolgreich sind dann die Ermittler, die auch andere Hinweise nutzen, an die die Täter nicht gedacht haben.
    Die Kunst besteht nun in der Gratwanderung, möglichst viele Beweise zu erlangen, ohne den Tätern eine Anleitung zu geben, was sie unbedingt vermeiden müssen.

    Comment by Werner — 5.05, 2012 @ 22:05

  5. andererseits hört man in letzter zeit immer seltener, dass die vorstellung vom gesuchten letztlich bestimmt, was wir finden.

    .~.

    Comment by dot tilde dot — 5.05, 2012 @ 22:09

  6. Lasst sie doch machen. Denn am Ende sieht es so aus: Die technische Auswertung werden Computer übernehmen, neue Algorithmen und mehr Rechenleistung werden hier drastische Fortschritte erbringen.

    Dann haben sich die Herren wunderbar selbst überflüssig gemacht, Verhaftungen kann dann ein privates Sicherheitsunternehmen durchführen, wesentlich günstiger.

    Von daher schaufelt hier eine Gruppe gerade ihr berufliches Grab, was natürlich auch sehr schade ist, denn klassische Polizeiarbeit verdient meinen höchsten Respekt und dafür wird zu wenig Anerkennung ausgesprochen.

    Comment by Trollfresser — 6.05, 2012 @ 11:24

  7. @Wolfgang Ksoll

    Also ich finde es gut, dass „Mein Kampf“ endlich erscheint. Denn die Weigerung des bayerischen Staates das Buch zu veröffentlichen hat zur Mystifizierung des Buches beigetragen. Man hat es so interessanter gemacht, als es in Wirklichkeit ist.
    Und dass Bayern das Buch veröffentlicht, liegt auch daran, dass die Rechte bald sowieso gemeinfrei werden. Und dann kann Bayern nicht mehr mit der Urheberrechtskeule kommen, wenn andere Verlage Ausschnitte aus dem Buch veröffentlichen wollen.

    Comment by J. S. — 6.05, 2012 @ 15:42

  8. /neudrucke/ sind verboten.
    originalausgaben waren immer legal zu besitzen und zu handeln.

    Comment by kuhkatz — 7.05, 2012 @ 01:20

  9. @Stadler:
    Der Name Bosporus wurde mE laut SZ_Artikel wegen der Herkunft des ersten (?) Opfers gewählt. Man hätte natürlich nach dem 2. oder 3. Mord die Soko auch „Ceska“ nennen können. Aber zumindest in den letzten 7 Jahren (die Soko gab es seit 2005) hat sich meines Wissens keiner über den Namen der Soko aufgeregt,erst jetzt stellt jeder fest, dass es sich um Ausgrenzung durch Sprache handelte. Von daher hat der SZ-Artikel auch insoweit Recht, als dort sinngemäß steht, dass hinterher Journalisten alles besser gewusst haben wollen.
    Bei wiki unter Neonazi-Mordserie wird SPON mit einem Artikel vom 11. November 2011 zitiert mit der Überschrift „Ermittler finden Tatwaffe der Döner-Morde“. Und am 16. November dann ebenfalls bei SPON „Ausgrenzung durch Sprache: Deutsche und Döner“ (Fußnoten Nr. 2 und Nr. 19). Da soll keiner sagen, er habe nicht auch selbst etwas dazulernen können.

    Die Angaben der SZ zu den reinen Zahlen lesen sich recht erschröcklich. Was aber unter „Bankdaten“ gemeint ist, bleibt recht unklar. Wenn beispielsweise bei einem Opfer die Konten ausgewertet wurden, etwa nach unklaren Zahlungsein- oder ausgängen und jeder Buchungssatz („Bareinzahlung 100 €“) ein „Bankdatum“ von 32 Millionen erhobenen Daten ist, dann wird klar, dass die reine Zahlenangabe nichts ganz so Erschreckendes an sich hat. Wenn man z.B. bedenkt: das erste Opfer hatte einen Blumengroßhandel, da dürften alleine bei Kontenabfragen ein paar zigtausend „Bankdaten“ angefallen sein.

    Es ging außerdem um 9 Morde, ob bei der Datenanzahl auch die Banküberfälle und der Bombenanschlag in Köln und der Mord an der Polizistin nebst Fast-Mord an ihrem Kollegen mit eingerechnet sind oder nur Soko Bosporus, geht nicht genau aus dem Artikel hervor. Von daher ist die Zahl auf einen Durchschnittswert wohl mindestens durch 9 zu teilen,

    Und diejenigen, die die „klassische kriminalistische Arbeit“ hochjubeln, sollten sich überlegen, dass die früher eben auch dadurch gemacht wurde, dass die Polizeibeamten die Hotels abgelatscht sind und Meldezettel durchgesehen haben, statt sich die Datensätze senden zu lassen.

    @ksoll: Ihr Verweis auf die Schleyer-Entführung liegt leider daneben. Es kam der richtige Hinweis auf die nach Kriterien der Rasterfahndung gefilterte Wohnung, der Tarnname der Mieterin war auch in PIOS erfasst. Das Problem war nicht etwa ein Versagen des BKA oder der Ermittlungsmethode Rasterfahndung, sondern ein generelles Kompetenzgerangel in einer Zeit, in der die BRD aufgrund der paralleleln Landhut- und Schleyer-Entführungen recht nahe am Ausnahmezustand war.

    Comment by klabauter — 7.05, 2012 @ 09:50

  10. In jedem besseren Buch über Data Mining (d.h. nicht von BWLern) steht das zur Nutzung der Programme Kenntnisse über die Algorithmen zur Bewertung der Ergebnisse nötig sind.
    Da Kriminalbeamte in der Regel weder über höhere Statistik noch Mathematik Kenntnisse verfügen ist das Resultat vorprogrammiert.

    Comment by buzzword — 8.05, 2012 @ 10:45

  11. Vorsicht bei der Rasterfahndung. Sie wird leicht verwechselt mit einer ähnlichen Methode: http://mosereien.wordpress.com/2012/09/29/rasterfahndung/

    Comment by Andreas Moser — 29.09, 2012 @ 10:35

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